Ein rätselhaftes Land

Unverstanden Schweden belügt sich selbst über Gewalt und Widersprüche im Land

In Europa herrschte Unverständnis, als bekannt wurde, dass die schwedische Außenministerin Anna Lindh ohne Leibwächter unterwegs war. Unverständlich ist auch vielen Europäern, wie sich Schweden gegen den Beitritt zur Eurozone aussprechen konnte - das Land wird für die Berichterstattung interessant und bleibt ein Rätsel.

Kurz nach dem Mord wird die schwedische Sicherheitspolizei als Haufen Amateure dargestellt. Es lag keine Bedrohung vor, heißt es von dort. Muss man hier Blauäugigkeit diagnostizieren oder gibt es in Schweden wirklich Elemente einer anderen politischen Kultur?

Kritische Stimmen sagen, jeder Spitzenpolitiker in exponierter Position sei automatisch gefährdet. Aber nach schwedischem Verständnis wurde die Möglichkeit einer Gefahr in Ermangelung von Drohungen verworfen, statt sie strukturell als Begleiterscheinung des Berufs zu betrachten. Volksnähe und Offenheitsprinzip gehören in Schweden zum politischen Selbstverständnis. Politiker vermeiden tunlichst, den Eindruck zu vermitteln, sie sähen sich selbst als Elite. Anna Lindh entsprach wie niemand anders dem Wunschbild der vom Idealismus beseelten Politikarbeiterin. Ihre enorme Beliebtheit erklärt sich durch ihre Glaubwürdigkeit.

Dass das Attentat als Schock bezeichnet wird, beruht auch darauf, dass Anna Lindh keine angefeindete, umstrittene Politikerin war. Der Schrecken über die Tat und ihre Unerklärbarkeit sitzt tief. Schnell ist man sich einig: der Täter muss ernsthaft gestört sein. Wenn jetzt in den Medien von allgemeiner Fassungslosigkeit die Rede ist, muss hinterfragt werden, ob dies nicht auf einem verzerrten Wirklichkeitsbild beruht. Widersprüche zwischen Selbstdarstellung und Realität gibt es viele. Schweden lobt sich selbst als das gleichgestellteste Land der Welt. Dass es zum Alltag von Schülerinnen gehört, als Hure bezeichnet zu werden, kann noch als sprachliche Verrohung gesehen werden. Nicht jedoch die Meldungen über Vergewaltigungen, die nach jedem Wochenende zu lesen sind.

Einst hat Olof Palme als prominentester Vietnamkriegsgegner des Landes das Image als friedliebendes Land gefestigt. Niemand stellt jedoch die umfangreichen Waffenexporte in Frage. Auch nicht die in Krisenregionen. Das sofortige Verwerfen der Möglichkeit eines rational geplanten Mordes ist Ausdruck der Weigerung, ihn als Teil einer Normalität der Gewalt zu sehen. Die gibt es nur in den USA. Emotionsreiche Appelle zum gemeinsamen Einsatz für das politische Erbe von Anna Lindh können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das Klima in Schweden verändert hat. Gerade diesen Sommer zeigte eine ganze Reihe von Gewalttaten, dass es keinen Grund gibt, so zu tun, als hätte das Land plötzlich mit dem Mord an Lindh seine Unschuld verloren.

In der Stockholmer Altstadt rast ein Mann mit einem Auto in die Menschenmenge der Fußgängerzone. Ein anderer prügelt mit einem Eisenrohr auf Passanten ein. Am Tag, an dem Anna Lindh niedergestochen wurde, tötet ein Mann ein fünfjähriges Mädchen ebenfalls mit einem Messer. Alle Täter waren psychisch krank. Die sogenannte Psychiatriereform mit katastrophalen Folgen für viele psychisch Kranke, die sich jetzt mehr oder weniger selbst überlassen werden, hat zwar finanzielle Kosten gespart, aber die meschlichen sind hoch.

Auch politisch motivierte Kriminalität ist an der Tagesordnung. Anfang August wird die Gay-Pride-Parade von Rechtsextremisten angegriffen, und die Statistik zeigt eine Verdoppelung der sogenannten Hassverbrechen während der letzten fünf Jahre.

Alltagsgewalt kann nur bekämpft werden, wenn sie als Teil der Gesellschaft wahrgenommen wird, in der sie entsteht. Dennoch wird Gewalt oftmals als etwas Fremdes dargestellt, letzten Endes etwas Unschwedisches. Jüngstes Beispiel ist die Berichterstattung über Asylmissbrauch durch Personen aus der ehemaligen Sowjetunion und die hohe Kriminalität dieser Gruppe in Dagens Nyheter.

Die schwedische politische Kultur ist von Konsensdenken geprägt. Das ist in gewisser Hinsicht ehrlicher, als sich wie in Deutschland in der Öffentlichkeit zu bekämpfen und hinter den Kulissen zu kungeln.

Aber: Zu den Lehren der Geschichte gehört, dass es schädlich für die Demokratie ist, abweichende Meinungen als Systembedrohung darzustellen. Daher rief es Unbehagen hervor, als die Vorsitzende des sozialdemokratischen Frauenverbundes in ihrer Kampagne für den Euro die Euro-Gegner in die Nähe von Rechtsextremisten rückte. Auch solche Polemik ist eine Form von Gewalt.

Die lange sozialdemokratische Dominanz hat Spuren hinterlassen. Das schwedische "Volksheim" als Integrationsmodell, in dem soziale Gerechtigkeit und sozialer Friede den Fortschritt ermöglichen, wird oftmals nostalgisch verklärt, aber auch hart kritisiert. Es förderte ein geistiges Klima, in dem die Angst davor, aus der Menge hervorzustechen, sprichwörtlich ist. Weder positive noch negative Abweichungen sind erwünscht. Konflikte werden möglichst vermieden. Jedenfalls bot dieses Modell Sicherheit.

Im Zuge der Haushaltssanierung der 90er Jahre verstärkte sich der Druck zur Anpassung an die neuen Zeiten. Früher sollte man sich in das Kollektiv einfügen, heute als Individuum erfolgreich sein.

In der Stockholmer U-Bahn hängt ein Werbeplakat: "Uneingeschränktes Vorankommen" prahlt der Text über dem Bild eines Stadtjeeps, der auf den Dächern zweier Autos thront und offensichtlich gerade über eine Reihe parkender Autos gerollt ist. Ein Identitätsangebot an den modernen Menschen. Erfolgsorientiert, zielstrebig und stark. Hauptsache das Ziel erreichen.

Schweden hat sich nun auch gegen eine andere Gemeinschaft entschieden: die Eurogemeinschaft, weil es fürchtet, um die Früchte seiner ökonomischen und gesellschaftlichen Errungenschaften gebracht zu werden. Die Europäer sind düpiert und Schweden bleibt ein rätselhaftes Land.

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