Ein regnerischer Nachmittag

Kehrseite III Ihr fiel auf, wie vergesslich sie in letzter Zeit geworden war. Auch an jenem regnerischen Nachmittag wusste sie nicht mehr, wozu sie nach ...

Ihr fiel auf, wie vergesslich sie in letzter Zeit geworden war. Auch an jenem regnerischen Nachmittag wusste sie nicht mehr, wozu sie nach halbstündiger Busfahrt an einer bestimmten Haltestelle ausgestiegen war. Sie spannte erst einmal ihren Regenschirm auf, blieb dann an der nächsten Straßenecke stehen und versuchte, sich zu erinnern. Aber ihr Gedächtnis gab nichts her, genauso wie vor ein paar Tagen, als sie ein kleines Kästchen in ihrer Tasche gefunden hatte. Sie wusste nicht mehr, woher es kam, was darin gewesen war. Genauso wie am Tag zuvor, als sie bemerkte, dass einige Seiten aus ihrem Tagebuch herausgerissen waren. Sie wusste nicht mehr, warum sie sie herausgerissen hatte oder was auf den fehlenden Seiten geschrieben stand. Auch jetzt, auf der Straße voller Pfützen, hatte sie bloß das vage Gefühl, als hätte sie in dieser Gegend etwas zu tun.

Sie tastete in ihren Manteltaschen nach einem Einkaufszettel. Aber sie fand nichts außer einer Packung Papiertaschentücher. Sie suchte in der Handtasche nach ihrem Kalender, um zu schauen, ob sie einen Termin hatte. Aber sie fand nicht einmal den Kalender. Ein Arzttermin kam ihr unwahrscheinlich vor, da ihr nichts wehtat. Ein Termin beim Frisör schien ihr genauso unwahrscheinlich, da ihre Haare noch kurz genug waren. "Wollte ich jemanden treffen?" Sie versuchte, sich an eine Verabredung zu erinnern. Aber keine Zeile, kein Anruf, keine Vereinbarung fielen ihr ein.

Sie ging durch diese und jene Straße, schaute in die Läden hinein, wo sie manchmal eingekauft hatte. In ein Weingeschäft, in einen Schreibwarenladen, in einen Taschenladen, in eine Buchhandlung, in ein Schuhgeschäft. Aber nichts in den Läden gab ihr das Gefühl, dass sie dort etwas gewollt hätte. Am Ende ging sie an einem Laden für Obst und Gemüse vorbei. Da fiel ihr eine Mango in die Augen. Einen Moment dachte sie nach, ob es diese Mango wäre, die sie wollte. Doch eine Mango hätte sie auch in einem Laden in ihrer Nähe kaufen können.

Es regnete heftig. Ihre Schuhe wurden immer nasser, ihre Füße und Hände immer kälter. Wegen des Windes waren auch ihre Schultern und ihr Rücken nass und kalt trotz des Regenschirmes. Aber sie wollte nicht nach Hause zurückfahren. Sie wollte unbedingt wissen, was sie in der Gegend zu tun hatte. Sonst müsste sie den Rest des Tages immer wieder daran denken. Sie zog den Mantelkragen enger zusammen. Hatte sie doch jemanden treffen wollen? Aber wen? Es musste jemand sein, den sie sehr sehen wollte. Sonst wäre sie an so einem kalten, regnerischen Tag nicht hierher gefahren.

Sie ging in ein Café, wo sie bereits ab und zu mit Freundinnen und Freunden verabredet gewesen war. Sie schaute sich um, ob jemand auf sie wartete. Aber ihr fiel kein bekanntes Gesicht auf. Sie wollte wieder gehen, doch da fiel ihr ein, dass ja noch jemand kommen könnte. Sie setzte sich an einen Fenstertisch, von wo aus sie den Eingang ungestört beobachten konnte, und bestellte eine Tasse Tee. Sie starrte auf die Tür und schaute jeden Hereinkommenden aufmerksam an, wobei sie langsam an ihrer Tasse nippte. Der heiße Tee durchströmte ihren Körper. Sie wurde des Starrens müde und wandte den Blick von der Tür ab, auf das Fenster nebenan. Vom Wind gepeitschte Regentropfen prasselten leise gegen die Scheibe. Die Wasserperlen blitzten kurz, bevor sie auf dem Glas unzählige schimmernde klare Linien zeichneten. Sie starrte die Perlen an, hörte dem Prasseln zu. Nach einer Weile wusste sie schon nicht mehr, warum sie in dieses Café gekommen war. Doch die Regentropfen fand sie wunderschön.

Sie glaubte sogar, nie zuvor etwas so Schönes gesehen zu haben.

Miyuki Tsuji wurde 1968 in Osaka geboren. Nach einem Slavistik-Studium in Tokio reiste sie die Seidenstraße entlang bis nach Europa und ließ sich schließlich in Hamburg nieder. Außer Kurzgeschichten schreibt sie Texte für Comics und Reiseessays.


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