Ein Richter im Netz der eigenen Lügen

Serien Michael Pekler schätzt an „Your Honor“ den Kollateralnutzen des horizontalen Erzählens. Spoiler-Anteil: 19%
Ausgabe 05/2021

Michael Desiato (Bryan Cranston) stellt scheinbar unnötige Fragen. Zum Beispiel dem schwarzen Angeklagten nach dem Namen seines Opas. Oder dem weißen Polizisten im Zeugenstand, wie ernst dieser es tatsächlich mit dem Schwur auf die Bibel meine. Desiato möchte sich nämlich ein Urteil bilden, ehe er ein solches spricht. Für ihn, also vor dem Gesetz, sind alle Menschen gleich, auch wenn – oder gerade weil – er genau weiß, dass auf den Straßen von New Orleans das nicht der Fall ist. Denn dort zählen vor allem Herkunft und Hautfarbe. Richter Desiato ist sich seiner privilegierten Position durchaus bewusst.

Privat sieht die Sache seit dem Tod seiner Frau vor einem Jahr anders aus. Zwar kommt er mit seinem halbwüchsigen Sohn Adam (Hunter Doohan) gut aus, doch der Rolle des Alleinerziehers scheint er nicht recht gewachsen. Sicherheit und Souveränität gehen endgültig verloren, als Adam einen jungen Motorradfahrer überfährt und den Sterbenden am Straßenrand liegenlässt. Desiato weiß selbstverständlich zunächst, was rechtens ist – bis er auf der Polizeistation beschließt, die Fahrerflucht zu vertuschen, um seinem Sohn das Leben zu retten. Denn der Vater des Opfers, der millionenschwere Kriminelle Baxter (Michael Stuhlbarg), ist nicht dafür bekannt, Gnade walten zu lassen.

Bereits in der ersten Folge bereitet Your Honor (derzeit auf Sky) den Boden für all die Verwicklungen, in denen sich Desiato zusehends verstricken wird. Der zerbeulte Wagen muss beseitigt werden. Man könnte, weil man beste Kontakte zur Politik unterhält, den als Bürgermeister kandidierenden Freund bitten, das Unfallauto stehlen zu lassen. Doch was geschieht, wenn die Polizei wenig später stolz verkündet, den vermeintlichen Dieb gefasst zu haben? Und Baxter so eine Spur gefunden hat, die zum Schuldigen führen könnte?

Der Reiz von Your Honor liegt darin, dass man, gerade weil die Serie die bekannten Pfade so wenig verlässt, dem Erwartbaren bald nicht mehr traut. Kann es tatsächlich sein, dass ein ehrenwerter Mann wie Desiato, in die Enge getrieben, einen Fehler nach dem anderen begeht? Die Ausreden jedenfalls werden fahriger, die Lügen unglaubwürdiger, und dazu kommen eine heimliche Liebe Adams und ein rachsüchtiges Familienmitglied der Baxters im selben Knast wie der geleaste Autodieb. Langsam erweitert sich der Blick der Serie auf die ärmlichen Vorstädte, zu den Gangs und der täglichen Gewalt. Und man weiß, dass das, woran man zu Beginn mit Desiato in seiner Richterrobe noch gerne glaubte – gleiches Recht für alle –, nur für jene gilt, die es wenigstens bis zu einem Justizurteil schaffen.

Bryan Cranston, gefeierter Charakterdarsteller (Trumbo) und seit seinem mittlerweile legendären Auftritt als Walter White in Breaking Bad ein Serienstar, beherrscht Rollen wie die des Michael Desiato im Schlaf: mit hängenden Schultern, bedächtiger Stimme und unruhigen Blicken wird der sich in ständiger Alarmbereitschaft befindliche Richter von lästigen Fragen und unglücklichen Zufällen gequält. Das führt mitunter an die Grenzen der Plausibilität und zu dem Gefühl, dass dem Drehbuch sein dauergespanntes Publikum wichtiger wäre als die Psychologie seiner Figuren. Andererseits zeitigt die dramaturgische Anhäufung von Unwahrscheinlichkeiten in der Kombination mit Cranstons Spiel einen interessanten Effekt: Während Cranston als Schauspieler wie in Zeitlupe agiert, sein Richter Desiato immer irgendwie zu langsam zu sein scheint, beginnen sich die Ereignisse im reißenden Erzählstrom rund um seine Figur zunehmend zu überschlagen.

Ausgedacht hat sich das der britische Dramatiker und Drehbuchautor Peter Moffat, der sich dafür bei der israelischen Fernsehserie Kvodo als Vorlage bedient hat. Natürlich hat man – wie derzeit bei so vielen Serien – auch bei Your Honor das Gefühl, dass die eine oder andere Stunde Erzählzeit nicht unbedingt erforderlich wäre. Andererseits zählt ökonomisches Erzählen selten zu den Qualitätskriterien des Formats. Der Kollateralnutzen liegt auch bei Your Honor im Ausbuchstabieren von Momenten: Wie lange kann man, selbst schwer verletzt, an einer Unfallstelle bleiben und jemandem beim Sterben zusehen? Eine gefühlte Ewigkeit.

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