Ein stilles Ende

Transformation Ein prächtiger neuer Band erzählt in Wort und Bild vom Abschied der DDR
Ausgabe 13/2020

Wissen Sie, falls Sie damals schon im Erwachsenenalter und östlich der Elbe zu Hause waren, wo und wie Sie den 1. Juli 1990 verbracht haben? Nein? Das ist merkwürdig, schließlich fiel an diesem Tag der Startschuss für die einschneidendste und folgenreichste Umwälzung im Leben aller DDR-Bürger, nämlich die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der BRD. Faktisch bedeutete dieser Tag das Ende der DDR, wie man sie kannte. Seltsam, dass dieses Datum in der Gedenkhierarchie weit hinter Mauerfall – wo jeder weiß, was er an diesem Tag gemacht hat – und Montagsdemos kommt. Mag schon sein, dass die Erinnerung an das Aufbegehren im Herbst ’89, welches mit der Öffnung der Mauer seinen Höhepunkt fand, einfach mehr wohlige Wärme im Bauch erzeugt. Bei der Analyse des Wendeherbstes herrscht jedenfalls weitgehend Einigkeit, reflektiert man jedoch das Folgejahr und den Prozess der Transformation hin zum Kapitalismus bundesdeutscher Prägung, ist der Betrachter gezwungen, Position zu beziehen und eine Haltung zum Geschehenen einzunehmen. Spätestens hier tun sich die Gräben des gegenseitigen Unverständnisses auf und viele der Kontroversen, die bis heute das deutsch-deutsche Verhältnis prägen, haben ihren Ursprung in diesem Jahr der Umbrüche, schmerzhaften Entscheidungen und des tiefgreifenden Wandels.

Der Mauerfall erscheint nach allgemeiner Lesart als das prägendste Ereignis dieser Zeit, zusammen mit den samtenen und sonstigen Revolutionen im einstigen Ostblock. Ähnlich prägend, jedoch weitgehend unbeachtet, war aber zum Beispiel in Westdeutschland die staatliche Lizenzvergabe für den Aufbau eines Mobilfunknetzes an den Mannesmann-Konzern im Herbst 1989. Deren Folgen waren mindestens ebenso schwerwiegend und existenziell, revolutionierte sie doch nicht nur unser Kommunikationsverhalten, sondern markierte auch den Beginn des Ausverkaufs und der Privatisierung vormals öffentlicher Güter, somit den Triumph des Neoliberalismus. Es ist das Verdienst des Verlegers Jan Wenzel und seiner Mitarbeiter, solche Querverbindungen aufzuzeigen und neue Sichtweisen zu ermöglichen.

Warten auf den Westen

Das Jahr 1990 freilegen lautet der sperrige Titel ihres großvolumigen Bild-Text-Bandes, der nichtsdestotrotz die Arbeit der Herausgeber sehr präzise beschreibt. Archäologen gleich haben sie die Schichten und Sedimente der Historie abgetragen, mit feinem Pinsel den Staub, der sich auf die Hinterlassenschaften gelegt hat, entfernt und die filigranen Überbleibsel einer untergegangenen Kultur freigelegt. Vor uns liegt schließlich das kollektive, gut konservierte Gedächtnis einer Gesellschaft in Auflösung. Die Aufgabe des Lesers ist es, sich aus diesem Konvolut an Bruchstücken, Scherben und Fragmenten ein (Zeit-)Bild zusammenzusetzen.

Die Quellen, derer sich die Herausgeber bedient haben, sind alle frei zugänglich, ihr Verdienst besteht also mitnichten darin, etwaige bisher geheime Archivbestände erschlossen zu haben. Vielmehr haben sie den zeitgenössischen öffentlichen Diskurs durchforstet und seine Essenz extrahiert. Das Jahr 1990 freilegen stützt sich auf Bücher, Zeitzeugenprotokolle, Interviews, journalistische und literarische Texte, Presseartikel, Zitate, Sitzungsprotokolle (unter anderem des Zentralen Runden Tisches), Tagebücher etc. pp. Man mag sich nicht die Arbeit vorstellen, die es gemacht haben muss, aus der Menge an Material eine empirische Auswahl zu treffen und diese sinnvoll zu editieren. Am einfachsten war dabei vermutlich, eine chronologische Abfolge der Geschehnisse herzustellen.

Am Ende hat der Leser nichts weniger vor sich als die Chronik einer gesellschaftlichen und politischen Transformation, heruntergebrochen auf Ihre banale Alltäglichkeit. Glaube ja niemand, ein Staatswesen bräche mit lautem Getöse zusammen. Im Gegenteil, wie der westdeutsche Journalist Martin Gross am 25. Januar 1990 notierte: „Mit spektakulären Ereignissen habe ich ja nicht wirklich gerechnet, aber daß der Zerfall einer Ordnung so ungeheuer ordentlich vor sich geht, das hätte ich nicht erwartet.“ Alles, was nach dem eigentlichen Bruch im Herbst 1989 kam, war für ihn lediglich noch „das Warten auf den Westen“.

Es erstaunt, solche Worte bereits Ende Januar 1990 notiert zu sehen, folgte man doch bisher der verbreiteten Lesart, die Bürgerbewegungen hätten zu diesem Zeitpunkt an den diversen Runden Tischen gemeinsam mit der Interimsregierung um die Zukunft des Landes gerungen, bevor die im März gewählte neue Regierung unter Lothar de Maizière endgültig die Weichen in Richtung Kapitalismus und Wiedervereinigung stellte. Anhand der Dokumente im Buch bekommt der Leser eine Ahnung davon, wie gering tatsächlich der Spielraum für gesellschaftliche Alternativen war und zu welch frühem Zeitpunkt es eigentlich nichts mehr zu verhandeln gab.

Als der Diskurs sich noch um das Für und Wider eines wie auch immer gearteten „Dritten Weges“ drehte, standen die westdeutschen Konzernchefs längst Schlange vor den ostdeutschen Werkstoren, um die Erbmasse zu begutachten. Unverblümt stellte der damalige FDP-Vorsitzende und verurteilte Steuerhinterzieher Graf Lambsdorff in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung Anfang Januar seine Bedingungen, als er süffisant feststellte, natürlich entscheide die Bevölkerung der DDR frei darüber, in welcher ökonomischen und gesellschaftlichen Form sie leben wolle. Aber „ohne marktwirtschaftliche Entscheidungsformen, ohne etwa ein Gesellschaftsrecht, das privatwirtschaftliche Beteiligungen zulässt“, könne es keine wirtschaftliche Kooperation geben, die zum Erfolg führt. Schon am 2. Januar eröffnete die Dresdner Bank ihre erste Filiale in den zukünftigen „neuen Bundesländern“. Wie unmittelbar die ökonomischen Mechanismen der Marktwirtschaft gleich nach dem Mauerfall zu wirken begannen, macht der Schriftsteller Rolf Schneider an einem Detail deutlich: In den hessischen Ortschaften nahe der Grenze zu Thüringen gerieten die Friedhofsunternehmen infolge der Grenzöffnung in Bedrängnis, weil die Bestattungsinstitute ihre Einäscherungen flugs in die östlich der Grenze gelegenen Krematorien verlegten, wo die Preise unschlagbar niedrig waren. Allerdings auch die Umweltstandards, was bei ungünstigem Wind auch im Westen bemerkbar war.

Füllhorn an Anekdoten

Gebannt erfährt der Leser, wie die alten Blockparteien, die es neben der SED gab, in Windeseile nur mehr zu Filialen ihrer westdeutschen Schwesterparteien mutierten, wie die West-CDU sich die „Allianz für Deutschland“ schuf und den beginnenden Wahlkampf dominierte. Von demokratischer Emanzipation war da längst keine Rede mehr, und die Bürgerbewegungen, eben noch für ihren Mut bejubelt, wurden ab dem Moment, „da sie über eigene politische Gestaltungsmacht verfügten“, von westlicher Seite „wie Kinder behandelt“, wie der Philosoph Boris Buden festhielt. In einem fast letzten Aufbäumen beschloss der Zentrale Runde Tisch am 5. Februar mit den Stimmen der Bürgerrechtler, „bei allen öffentlichen Veranstaltungen bis zum 18. März 1990 (dem Tag der Volkskammerwahl, d. A.) auf Gastredner aus der Bundesrepublik ... zu verzichten.“ Der Westen reagierte beleidigt, die SPD sprach von „Einreisesperre“, an den bereits geschaffenen Fakten änderte sich nichts.

Freilich wäre es verkehrt, alle Schuld an den gescheiterten Träumen vom „Dritten Weg“ allein den westdeutschen Eliten zuzuschieben. Die dortigen Politiker standen unter dem enormen Druck, die nach wie vor anhaltende Ausreisewelle aus der DDR irgendwie zu stoppen. Man erinnere sich an die Losung auf den späten Montagsdemos „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“. Längst gab es in der Bundesrepublik eine Flüchtlingskrise gleich der von 2015, nur mit dem Unterschied, dass die damaligen Neuankömmlinge Landsleute waren.

Der Spiegel konstatierte eine „unglaubliche Naivität“ unter den Neuzuzüglern, deren Erwartungen, im Westen mit offenen Armen empfangen zu werden, schnell an der Realität in den Übergangswohnheimen und Notquartieren zerschellte. Das „erhoffte flotte Leben“ rückte für die meisten Ostbürger in weite Ferne und die Massenquartiere wurden zu Dauerlösungen, was den Unmut unter den Bundesbürgern schürte, die ihre Turnhallen gerne wieder nutzen wollten.

Auch in der DDR selbst wuchs allmählich die Abwehr gegen die basisdemokratischen Zumutungen der Bürgerrechtler. Allzu mündig wollte der deutsche Michel eigentlich gar nicht werden, und in einem Brief an das „Neue Forum“ vom 17. Januar 1990 beklagten sich die „Werktätigen“ eines nicht näher bezeichneten Betriebes über die Unruhe, die in ihr Leben getreten war: „... aber wir wollen wieder Ruhe, Ordnung, Sicherheit, wie wir sie hatten, und verzichten auf die Freiheit der Anarchie, unbedachte Streiks und Vandalismus ... – wir legen auch nicht übermäßigen Wert auf Reisefreiheit, da wir es uns gar nicht leisten können, große Flausen zu haben und froh sind, ab und an in unser Betriebsferienlager zu fahren!“ Dass es diese Ferienlager bald schon nicht mehr geben würde, kam ihnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den Sinn.

Das Füllhorn an Geschichten und Anekdoten auf den 600 Seiten des Buches scheint unerschöpflich, und dabei ist noch nicht einmal etwas über die Bilder gesagt. Die zum Teil ausführlichen Fotostrecken verleihen dem Band eine zusätzliche visuelle Ebene und stehen als Bildessays für sich. Stellvertretend sei Ute Mahlers fotografische Erzählung vom Aufstieg und Fall des Manfred („Ibrahim“) Böhme genannt. Mit der ihr eigenen Empathie Menschen gegenüber besuchte sie den gefallenen Hoffnungsträger der Ost-SPD auch noch lange nach dessen Enttarnung als Stasispitzel, als alle Weggefährten sich längst von ihm abgewandt hatten. Dank ihrer Ausdauer entstand eine eindrückliche Bildserie über eine der seltsamsten Karrieren in dieser an Seltsamkeiten reichen Zeit.

Rückblickend erscheint vor allem die Naivität erstaunlich, mit der viele DDR-Bürger sich noch an ihrem Land rieben und für dessen Erneuerung fochten, als die Zeichen längst auf Anschluss standen, die „Altbesitzer“ ihre Grundstücke inspizierten, Manager Übernahmeverhandlungen vorbereiteten, Verleger die ostdeutschen Regionalzeitungen auf ihre Verwertbarkeit hin taxierten und sich all die anderen Glücksritter der Marktwirtschaft auf Schnäppchenjagd in den Osten begaben. Die Unbedarftheit vieler Ostdeutscher mag aus heutiger Sicht drollig wirken, doch angesichts des aktuellen Ost-West-Diskurses dürfte Cees Nooteboom recht behalten haben, als er in seinen Berliner Notizen 1989/90 schrieb: „In der Geschichte geht nichts verloren, jedes Atom der Schmach und Erniedrigung summiert sich und bleibt erhalten.“

Info

Das Jahr 1990 freilegen Editiert von Jan Wenzel Spector Books 2019, 590 S., 36 €

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