Brecht und die Schweiz Neue Brecht-Texte, bisher unbekanntes Film- und Fotomaterial und Schweizer Staatsschutzdokumente werfen ein neues Licht auf Brechts Weg in die DDR
Der Schriftsteller Werner Wüthrich vom Institut für Theaterwissenschaften der Universität Bern erhielt 1998 den Auftrag, seine 1974 in Wien verfasste Dissertation Bertolt Brechts Aufnahme in der Schweiz (1923-1969) zu überarbeiten und zu aktualisieren. Die Arbeit sollte in der Buchreihe des Instituts publiziert werden, weil in diesem Jahr - zu Brechts 100. Geburtstag - klar geworden war, dass alle Schweiz-spezifischen Publikationen zu Brecht sich bei dieser Dissertation bedienten, das unpublizierte Original aber nicht greifbar war. So legte Wüthrich seine dramatischen Stoffe zur Seite und klemmte sich noch einmal hinter die alte Brecht-Arbeit. Er rechnete mit einem Zeitaufwand von drei Monaten.
Fünf Jahre später liegt nun ein 600-seitiges Buch vor - ein er
Buch vor - ein erster Teil, in dem das Hauptstück der überarbeiteten Dissertation noch gar nicht Platz gefunden hat.Bei seinen Nachrecherchen hat Wüthrich eine derart veränderte Quellenlage vorgefunden, dass Brechts Zeit in der Schweiz ganz neu darzustellen war. Dies tut er nun zu Beginn seines Buches mit einem reich illustrierten Übersichtstext von 180 Seiten: Brecht hat sich zu verschiedenen Zeiten in der Schweiz aufgehalten, bis 1932 verschiedentlich als Tourist; 1933 zu Beginn seiner Exilzeit; 1947/48 aus dem US-amerikanischen Exil zurückkehrend ein ganzes Jahr lang; dann drei Monate im Frühling 1949 und schließlich im Februar 1956 auf der Durchreise nach Mailand. Zentral ist das Jahr 1947/48, das er mit seiner Partnerin Helene Weigel und seiner Tochter Barbara als Gast von Hanswalter und Reni Mertens-Bertozzi in Feldmeilen verbrachte: In dieser Zeit hat er in Chur Die Antigone des Sophokles und am Schauspielhaus Zürich Herr Puntila und sein Knecht uraufgeführt.Nach der Übersicht bietet Wüthrich in seinem Buch anhand von sieben Sondierbohrungen Einblick in den Steinbruch von neuem Material, den er mit seinen Nachrecherchen der Brechtforschung erschlossen hat. Diese Einzeldarstellungen befassen sich mit Brechts "Schweizer Stoffen und Anregungen"; mit seiner Verleumdung als "kommunistischer Agent", seinen Schweizer Verlagen im Allgemeinen und dem Kurt Reiss-Verlag in Basel im Speziellen, sowie mit seinem Verhältnis zur Schweizer Filmindustrie, zum Radio Beromünster und zu den "Théâtres Populaires" der Romandie.Bei seinen Nachrecherchen ist Werner Wüthrich zum Detektiv wider Willen geworden. Nicht selten, erzählt er, habe er ganz anderes gefunden als das, was er eigentlich gesucht habe. Beispielsweise sei es ihm gelungen nachzuweisen, dass zu einer Fotografie, die Brecht mit einer Gruppe Leute in Feldmeilen zeigt, seit 50 Jahren eine völlig falsche Bildlegende und ein falscher Fotografenname kolportiert werde. Dabei habe er die Witwe des damaligen Fotografen kennen gelernt und sie unter anderem nach dem Negativ zum Bild gefragt, um einen neuen Abzug machen zu können. Dieses Negativ habe zwar die betagte Frau nicht gefunden, dafür eine bisher unbekannte Fotoserie der "Puntila"-Uraufführung im Schauspielhaus. Zudem habe sie erzählt, ihr Mann habe damals zusammen mit einem Kollegen das Theaterstück auch gefilmt. Wüthrich sucht diesen Kollegen, findet bei ihm einen fünfminütigen schwarzweißen 16-Millimeter-Film mit ausgewählten Sequenzen aus der Uraufführung. Der Mann erzählt, er habe damals in einer regulären Aufführung unter ständiger Anweisung von Brecht gefilmt, der Autor habe die Aufnahmen zur Dokumentation gebraucht. Auf Grund weiterer Recherchen ist für Wüthrich heute klar: Brecht brauchte diese Dokumentation, weil er in diesen Tagen mit einem Verbot der umstrittenen Uraufführung und seiner Ausweisung aus der Schweiz rechnete.Die, neben bisher unbekannten Fotografien und Radioaufnahmen größte Entdeckung machte Wüthrich aber zweifellos am 9. Januar 2002, als er auf jenen "Koffer" Brechts stieß, der bisher lediglich als Gerücht durch die Brecht-Forschung gegeistert ist. In diesem Arbeitsdepot, das der Autor in der Schweiz zurückgelassen hat, fanden sich Original-Dokumente und Bücher von Brecht und Helene Weigel; Geschäftskorrespondenz, Privatbriefe und hektografierte Bühnenmanuskripte sowie ein Textkonvolut mit dem Handlungsexposé der verloren geglaubten "Koloman Wallisch-Kantate" und mindestens zwölf bisher unbekannten Herr Keuner-Geschichten.Viele von Wüthrichs Funden haben das Bild von Brechts Schweizer Zeit ergänzt und um neue Details erweitert. Einer dieser Funde aber ist hochbrisant, weil er die Darstellung von Brechts späten Jahren in der DDR sowohl der westdeutschen, als auch der ostdeutschen Brecht-Forschung in Frage stellt.Tatsache ist: Nach seiner endgültigen Abreise aus der Schweiz am 24. Mai 1949 ging Brecht nach Berlin-Ost und ist, nach der Gründung der DDR am 7. Oktober des gleichen Jahres, dort geblieben. Er machte mit seinem Berliner Ensemble innerhalb kürzester Zeit Berlin-Ost zum Zentrum des deutschsprachigen Theaters. Beim Aufstand vom 17. Juni 1953 erklärte er öffentlich seine "Verbundenheit mit der SED", der Staatspartei; am 19. Dezember 1954 nahm er zudem in Moskau den Stalin-Friedenspreis entgegen. Bei seinem Tod am 14. August 1956 galt er im Westen deshalb als moralisch fragwürdig und im Osten als Staatsdichter. Für die westdeutsche Brecht-Forschung endete der Meister in ideologischer Borniertheit ("Und ein Gruss von Josef Stalin/ Und ein Gruss von Mao Tse-tung/ Schneid dir dein Haar/ Wie schön´s auch war./ Jetzt kommt ein neues Jahr"); für die ostdeutsche war er einer, der gerade deshalb bedeutend war, weil er angesichts der Dialektik des historischen Fortschritts jeweils richtig entschied.Beide Sichtweisen sind ideologisch willfährige Deutungen einer Geschichte, die aus erst heute erkennbaren Gründen so verlief, wie sie verlief. Zu dieser Einschätzung kommt Werner Wüthrich, nachdem er das Staatsschutzdossier der Bundesanwaltschaft und die Unterlagen des Kriminalkommissariats III der Stadtpolizei Zürich ausgewertet hat, die der Historiker und Schriftsteller Peter Kamber entdeckte und ihm zur Verfügung stellte.Heute weiß man: Kaum anderthalb Monate, nachdem Brecht mit seiner Familie nach Feldmeilen gezogen war, gingen bei der Polizei erste Denunziationen ein, es gebe dort "nächtliche Zusammenkünfte". Nicht zuletzt, weil Brecht seit 1939 bei der Bundesanwaltschaft in einem Geheimbericht als einer vermerkt war, der in seinem damaligen dänischen Exil angeblich eine kommunistische Spionagezentrale betrieben habe, witterte man nun in Feldmeilen - in den ersten Monaten des Kalten Kriegs - ein "kommunistisches Agitationszentrum". Man begann Brecht intensiv zu überwachen und installierte schließlich in einer Kammer, die an Brechts Wohnung stieß, eine veritable Abhöranlage.Wüthrich weist in seinem Buch zweierlei schlüssig nach: Erstens hat sich Brecht nach Kräften darum bemüht, "unbedingt als Autor und Schriftsteller den Wohnsitz in der Schweiz behalten zu können" - weil er, wie zum Beispiel auch Thomas Mann, voraussah, dass er in West- so gut wie in Ost-Deutschland als Autor in der "deutsch-deutschen Falle" sitzen würde, die der Kalte Krieg aus dem Land gemacht hat. Und zweitens ist heute klar, dass die schweizerische Fremdenpolizei eine längerfristige Wohnsitznahme Brechts in der Schweiz verhindert hat in der Meinung, "Kommunisten internationaler Prägung" hätten "in unserem Lande nichts mehr zu suchen". Brecht verließ die Schweiz nicht, weil er gehen wollte, sondern weil er gehen musste.Damit werden die zwei gängigen Deutungen des späten Brecht obsolet: Weder hat er sich aus ideologischer Borniertheit moralisch diskreditiert, noch ließ er sich willfährig zum stalinistischen Staatsdichter machen. Wüthrich: "Als der Schweizer Staatsschutz Brecht im Mai 1949 aus dem Land drängte, hatte er keine freie Wahl, sondern schlicht keine andere, als nach Berlin-Ost zu gehen. Für mich ist das auch die Erklärung dafür, dass er das Feldmeilener Arbeitsdepot in der Schweiz zurückließ - er hoffte bis zuletzt auf ein stilles Haus am Genfer See als residence außerhalb Deutschlands."Mit seiner Forschung hat Werner Wüthrich einen der letzten weißen Flecke in der Brecht-Forschung ausgemalt, und zwar in einer Weise, wie es bis 1989 undenkbar gewesen wäre: "Die Brecht-Forschung war bis dahin ideologisch derart fixiert, dass nur Pro- oder Kontrapositionen möglich gewesen wären. Jetzt geht es darum, diese Forschung zu entideologisieren. Heute ist es möglich, die schwierige Beziehung, die Brecht zur SED gehabt hat, anzusprechen und mit den Fakten, die ich auf den Tisch lege, sein Handeln ab 1949 neu zu interpretieren."Bücher, Ausstellungen und ein FilmNeu erschienen ist das Buch: Werner Wüthrich: Bertolt Brecht und die Schweiz. Chronos Verlag. Zürich 2003.Der zweite Band, Bertolt Brecht - vom Ärgernis zum Klassiker, den Wüthrich ebenfalls in der Reihe Theatrum Helveticum des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Bern bei Chronos herausbringen wird, dokumentiert ausgewählte Erst- und Uraufführungen, die in der Schweiz stattgefunden haben. Dabei hat er sich nicht auf die Arbeit der Berufstheater beschränkt, sondern hat auch jene von Arbeiter-, Schul- und Laienbühnen, Verlagen, Film- und Hörspielproduzenten erforscht.Über die Publikation der Dokumente aus Brechts Feldmeilener Arbeitsdepot laufen zur Zeit Verhandlungen mit dem Suhrkamp-Verlag.Vom 16. März bis zum 31. Mai 2004 findet im Strauhof in Zürich eine Ausstellung unter dem Titel Bertolt Brecht und die Schweiz statt.In der ersten Hälfte 2004 entsteht der Dokumentarfilm Wer keinen Pass hat, ist ein Hund. Bertolt Brecht und die Schweiz von Bruno Moll. Im Zentrum dieses Kino- und Fernsehfilms steht Brechts Puntila-Uraufführung von 1948 - eingearbeitet wird der von Wüthrich gefundene Schwarz-Weiß-Film dieser Aufführung.Im März 2004 hat im Zürcher Schauspielhaus Herr Puntila und sein Knecht Matti in der Inszenierung von Andreas Kriegenburg Premiere. Dieses Stück hat Brecht an gleicher Stelle am 5. Juni 1948 aufgeführt.Im Sinn einer öffentlichen Überführung des Feldmeilener Arbeitsdepots ins Bertolt-Brecht-Archiv nach Berlin kommt es im Herbst 2004 in der Akademie der Künste zu einer weiteren Ausstellung über Brechts Schweizer Zeit. Sie trägt den Titel Neues vom Herrn Keuner. Aus der Sammlung Mertens-Bertozzi.
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