Ein Superman ist noch nicht in Sicht

Analyse Wer einfach nur Freiheit für den Künstler Ai Weiwei fordert, ignoriert, dass China noch sehr viele andere Probleme hat

Liao Yiwu – Schriftsteller, Liu Xiaobo – Friedensnobelpreisträger, Ai Weiwei – Künstler. Diese Namen standen in den vergangen Monaten in der westlichen Presse für das „gute“ China. Ai Weiwei, Liu Xiaobo und Liao Yiwus Schicksale mahnten an eines der Probleme der 1,4 Milliarden-Nation, nämlich an den eklatanten Mangel an Menschenrechten und Demokratie. Das Strickmuster des Problems ist einfach: Guter, aufrichtiger, künstlerisch begabter Dissident kämpft gegen böses Einparteien-Regime undurchsichtiger Herren in dunklen Anzügen – zum Wohle seiner Mitbürger.

Ai Weiwei solidarisierte sich mit über 300 anderen regierungskritischen Intellektuellen Chinas in der Charta 08 gegen den Apparat des Unrechts. Vorbild war der gute, alte Westen – genauer die tschechische Charta 77. Die Unterzeichner forderten Gewaltenteilung, Demokratie, eine unabhängige Justiz, Meinungs- und Versammlungsfreiheit und ein föderatives System. Die Charta 08 ist der derzeit sichtbarste Ausdruck gemeinsamer Aktionen verschiedener Dissidenten Chinas.

Damit beginnt Herausforderung Nr. 1 der chinesischen Dissidenten: China besteht aus einer Gesellschaft von Einzelkämpfern, die oft sehr emotional und spontan zu gemeinsamen Aktionen zusammenfindet. Selbst die Ereignisse auf dem Tian’anmen-Platz 1989 litt an diesem Grundproblem der chinesischen Gesellschaft, oder besser: am historisch kaum entwickelten Gesellschaftsbegriff, sprich an mangelnder Solidarität unter den politischen Akteuren. Die Ziele des Dissidenten sind zunächst ihre ureigenen Probleme, die sie mit dem Staat haben. Die Ziele des „einfachen Volkes“, der baixing sind meist andere. Oft ist der Dissident, wie beispielsweise Nobelpreisträger Liu Xiaobo, dem Geiste einer vergangenen Bewegung wie der 1989er-Prosteste verpflichtet.

Herausforderung Nr. 2: Die Forderungen von öffentlichem Versammlungsrecht bis zur Bundesrepublik China sind Ideale hoch und westlich gebildeter Intellektueller. Sie setzen den mündigen, ebenfalls gebildeten Bürger voraus, wenn sie halbwegs funktionieren sollen oder sind – wie im letzten Fall – viel zu weit von der historisch-politischen Wirklichkeit Chinas entfernt. Den „mündigen Bürger“ aber gibt es in der breiten chinesischen Masse von Landbevölkerung, Neureichen, Geldadel und zu wenig gebildeter (städtischer) Mittelschicht eben höchstens in Ansätzen. Wer Freiheit bekommt, muss dafür Verantwortung tragen können. Das hat nichts mit Talent, wohl aber mit entsprechender Bildung zu tun. Fähigkeit zur Verantwortung muss erlernt werden.

Herausforderung Nr. 3: Die politischen Prioritäten der Dissidenten treffen nicht immer die Interessen des Volkes: Demokratie und Meinungsfreiheit sind im Moment für viele weniger Themen als soziale Gerechtigkeit und die Sinnfragen des Daseins: Ein Recht auf bezahlbare Wohnungen sowie eine wirklich hochwertige Ausbildung, die den jungen Leuten Perspektiven für ihr Leben vermittelt, stehen im Vordergrund. Das sind die Punkte, die derzeit zu Unzufriedenheit führen.

Herausforderung Nr. 4: Spätestens seit 1989 ist deutlich geworden, dass fähige politische Exekutivkräfte fehlen, die in der Lage wären, eine alternative Regierung zu stellen. Chinesische Politik war immer zhengzhi, das Regulieren eines Staatsgebildes von oben. Neu gewonnene Freiheit kann aber nur in einem stabilen System erhalten werden, dass nicht korrumpiert wird. Stabilität Chinas ist nicht nur für China selbst, sondern für die Welt von großem Nutzen. China aber stabil zu halten, als Politiker zum Vorbild zu werden, mit dem sich der baixing identifiziert und gleichzeitig Freiheit für alle zu gewähren, erfordert einen Superman von Politiker, der derzeit nirgendwo zu sehen ist – in China nicht und auch sonst nirgendwo auf der Welt. Chinas einziger Politsupermann ist Sun Yatsen (1866-1925), der gleichermaßen von Taiwan als auch von der Volksrepublik als Landesvater geehrt wird. Mit seinen „Drei-Volks-Prinzipien“, eine komplexere politische Agenda als die Charta 08, hielt er sich kein Jahr im Amt.

Marcus Hernig ist Sinologe und Associate Professor an der Zhejiang-Universität

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