Dem federführenden Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio liegt ein Memorandum vor, das er nicht erbeten hat und vermutlich auch nicht berücksichtigen wird. Unser Autor Albrecht Müller hat es verfasst und kommt zu dem Schluss, dass Schröders wichtigstes Neuwahl-Argument durch nichts zu begründen ist. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Gutachten.
Die Neuwahl-Debatte ist hochinteressant und ein Beleg dafür, dass wir uns schon mitten in einer Orwellschen Welt befinden. Die öffentliche Meinung, die von Meinungsführern geprägt ist, vermag sich nahezu vollständig von den Fakten abzulösen. Es stimmt nämlich nahezu nichts an der so gängigen Begründung für Neuwahlen. Schon die uns mitgeteilte Vorstellung von Gerhard Schröder und Franz Müntefering, mit einem neuen Bundestag würde die Blockade des Bundesrats, so sie es gibt, aufgelöst, ist eine beachtliche konstruktive Meisterleistung. Denn ein Wahlsieg ihrer Partei, würde an der Blockademöglichkeit des Bundesrats gar nichts ändern.
Viel wichtiger aber ist, von einer Blockade kann man nicht sprechen: Von wenigen Ausnahmen wie Zuwanderungsgesetz und Eigenheimzulage abgesehen, sind die als wichtig erachteten Reformen reihenweise und nicht sonderlich beschädigt durchgekommen. Das gilt gerade für die viel diskutierten Steuer- und Arbeitsmarktreformen. Aber die erwarteten Wirkungen sind nicht eingetreten. Unsere Meinungsführer schreiben die Wirkungslosigkeit der Reformen fälschlicherweise ihrem Fixpunkt "Blockade" zu, einem Phantom.
Man kann nur hoffen, dass sich die Verfassungsrichter nicht mit den ausgegebenen Parolen, sondern mit den Fakten beschäftigen. Zum Beispiel müsste man fragen: Bei welchen Vorhaben ist konkret blockiert worden? Welche Folgen hatten diese Blockaden für unsere wirtschaftliche Entwicklung? Wie hätte zum Beispiel Hartz IV ausgesehen, wenn kein Kompromiss notwendig gewesen wäre? Hätte Hartz IV dann etwas gebracht?
Zum vollen Verständnis des Brainwashing, dem wir zur Durchsetzung von Neuwahlen ausgesetzt sind, wäre den Verfassungsrichtern zu empfehlen, eine Art zeitlichen Mediensprung in die Zeit vor der Neuwahlentscheidung des Bundeskanzlers zu unternehmen. Vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai waren nämlich eine Reihe von vernichtenden Bilanzen zur Reformpolitik erschienen - auch in solchen Medien, die sich bis dahin der Förderung der neoliberalen Reformagenda verschrieben hatten. Noch am Tag nach der Neuwahlankündigung, am 23. Mai, erschien der Spiegel mit dem Titel "Total verrückte Reform - Milliardengrab Hartz IV". In dem Beitrag wurde dokumentiert, dass die Mehrzahl der Hartz-Reformen erfolglos war und darüber hinaus mindestens 20 Milliarden mehr kostet als veranschlagt. In anderen Medienbeiträgen war in den Wochen vor der NRW-Wahl zunehmend berichtet worden, dass die gesamte Palette der Steuerreformen und Steuersenkungen, dass die Streichung der Gewerbekapitalsteuer und der Vermögensteuer, die Senkung der Körperschaftsteuer und des Spitzensteuersatzes zwar dazu führten, dass Deutschland eine der niedrigsten Steuerlastquoten hat, dass aber die erwarteten und versprochenen Investitionen und Arbeitsplätze ausgeblieben sind.
Bis zum 22. Mai war in der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr zu verheimlichen, dass die Reformpolitik kläglich gescheitert ist. Es fehlte nur noch die Bankrotterklärung der neoliberalen Bewegung. Gerhard Schröders Forderung nach Neuwahlen, verknüpft mit dem Aufruf an die Wähler, die Agenda 2010 und ihre Fortsetzung mit ihrer Stimme neu zu legitimieren, wirkte wie ein Befreiungsschlag für die gescheiterte Ideologie. Die zuvor anschwellende Debatte um ihr Scheitern war wie weggefegt. Seitdem wird wieder vornehmlich über die Notwendigkeit der Reformen diskutiert. Und darüber, dass unser Land darunter zu leiden habe, dass die Strukturreformen blockiert würden.
Wenn man sich diesen Vorgang vergegenwärtigt, wenn man sich an die Diskussion des Scheiterns der Reformen erinnert, dann begreift man auch, wie fadenscheinig der andere Strang der Begründung des Bundeskanzlers für die Neuwahlen ist. Wenn er sagt, die "drängenden Probleme unseres Landes" verlangten "die Fortsetzung der begonnenen Reformen", dies dulde "keinen Zustand der Lähmung oder des Stillstandes", die Bundesregierung sei auf die Geschlossenheit der Koalitions-Fraktionen angewiesen, die aber vermehrt durch abweichende, jedenfalls die Mehrheit gefährdende Stimmen bedroht sei, dann hat das doch nur Gewicht, wenn die Reformen erfolgreich sind. Das entspricht aber, wie die Erfahrung und die Bilanzierung der Reformen zeigen, nicht der Wahrheit.
Der Bundespräsident hat diesen Lügengeschichten das oberste staatliche Gütesiegel verpasst. Sollten die Verfassungsrichter diese Einschätzung für übertrieben halten, dann wäre zu empfehlen, sich die Fernsehansprache des Bundespräsidenten anzusehen. Die Körpersprache verrät alles. Da liest der erste Mann im Staat unsicheren Blickes ab, was Regierung und Opposition gleichermaßen von ihm erwarten. Man merkt dem Bundespräsidenten an: Er weiß, dass er dem Verfassungsauftrag, das Neuwahlbegehren auch verfassungsrechtlich zu prüfen, nicht ausreichend gerecht wird und eine politische Entscheidung fällt. Es wird interessant sein zu sehen, ob die Verfassungsrichter dem Täuschungsversuch nachgeben oder ob sie nüchtern prüfen, was denn da eigentlich blockiert worden ist und was den Bundestag und Bundesrat passiert hat, obwohl es besser blockiert worden wäre.
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