Ein verlorenes Paradies

Dokumentation Lager Gabrielle Brady dokumentiert die Grausamkeit der australischen Asylpolitik
Ausgabe 42/2019

Die vor der Küste Indonesiens gelegene Weihnachtsinsel ist das Reich der Roten Krabben. Millionen von ihnen leben im Dschungel und machen sich einmal im Jahr auf den Weg zur Küste. Dann steht das Leben auf der Insel praktisch still. Die Straßen, die die Krabben überqueren müssen, werden für Autos gesperrt. Und eine Gruppe von Menschen wacht während der Wanderung der Krustentiere akribisch darüber, dass ihnen nichts passiert. Wenn Teile der Strecke überschwemmt sind, bauen die menschlichen Helfer kleine Brücken und sorgen so dafür, dass diese Migrationsbewegung reibungslos verläuft.

In den Momenten ihres Films, in denen sich Gabrielle Brady den Roten Krabben und ihrem jährlichen Exodus widmet, erscheint einem die Weihnachtsinsel als idyllischer Ort. Doch der Eindruck trügt. Die von Australien verwaltete Insel ist alles andere als ein Paradies. Die Menschen, die erst vor gut hundert Jahren damit begonnen haben, sie zu besiedeln, sind auch heute noch Eindringlinge. Die Krabben mögen sie beschützen, aber mit ihren Mitmenschen kennen sie keine Gnade.

Die Insel der hungrigen Geister beginnt wie ein Thriller oder auch wie ein Abenteuerfilm. Ein Mann klettert über einen hohen Zaun. Im Schutz der Nacht läuft er durch den Urwald. Zunächst noch planvoll, mit seinen Kräften haushaltend. Doch seine Bewegungen werden immer ungleichmäßiger. Irgendwann schreit er seine tiefe Verzweiflung wie ein Tier aus sich heraus. Indessen überlagern Erinnerungen die Bilder aus dem Urwald. Anna Seghers Roman Das siebte Kreuz kommt einem in den Sinn und mit ihm Fred Zinnemanns Verfilmung. Nur erzählt die australische Filmemacherin keine dramatische Fluchtgeschichte.

In Bradys Dokumentation über das Leben auf der Weihnachtsinsel gibt es anders als in Zinnemanns Drama keinen Hoffnungsschimmer. Die Barbarei, von der sie berichtet, ist deutlich subtiler als die der Nationalsozialisten, aber im Endeffekt erweist sie sich sogar als noch zerstörerischer. Sie vernichtet die Menschen nicht direkt, sie raubt ihnen nur alle Hoffnung, sodass sie entweder kapitulieren oder gänzlich zusammenbrechen.

Eine, die nach und nach an dem von der australischen Regierung etablierten System scheitert, ist die Traumatherapeutin Poh-Lin Lee, die mit ihrer Familie auf die Weihnachtsinsel gezogen ist, um die Insassen des dortigen Lagers für Flüchtlinge zu betreuen. Australien interniert auf der Insel Asylbewerber und geht dabei extrem rücksichtslos vor. Familien werden getrennt. Die Aufenthaltsdauer im Lager, während sich die traumatischen Erfahrungen der Flucht weiter vertiefen, ist zeitlich unbefristet. Zudem werden Lees Bemühungen, die psychische Last ihrer Patienten in Therapiesitzungen etwas zu lindern, durch immer repressivere Maßnahmen des Staates wieder zunichtegemacht.

Die Therapiegespräche, die Brady auf eine beeindruckend dezente Weise begleitet, zeugen zugleich von der Notwendigkeit wie von der Vergeblichkeit der Sitzungen. Michael Lathams Bilder, die aus Unschärfen wie aus extremer Nähe eine ganz eigene Poesie erschaffen, fangen dabei den Schmerz der Internierten auf eindrucksvolle Weise ein, ohne deren Privatsphäre zu verletzen. Aber nicht nur die Kamera wahrt das perfekte Gleichgewicht von Distanz und Nähe. Brady weitet die Perspektive des Films so geschickt, dass der Zuschauer emotional und analytisch auf das Gezeigte reagieren kann. Die Sorge der Menschen um die Krabben betont das Leid der Internierten. Letztlich dreht sich alles um die Prioritäten, die der einzelne Mensch wie auch die Gesellschaft setzt. Es reicht eben nicht, sich nur über die australische Politik zu entrüsten. Man muss auch die eigene Rolle im System im Blick haben.

Info

Die Insel der hungrigen Geister Gabrielle Brady D/GB/AUS 2018, 98 Minuten

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