Der folgende Text kreist um die Frage, was 1968 bedeutete, vor allem, was es mir bedeutete, und was es dort bedeutete, wo ich 1968 studierte, in Marburg, einem exzentrischen Zentrum der Studentenbewegung. Davon, wie ich dort hingeriet, warum, was ich damals gelernt habe, von wem und auf welche Weise. Man kann darin Gedanken und Theorien neu besichtigen, die mir damals wichtig waren, darunter auch einige, die mir heute noch wichtig sind. Man findet darin Glücksmomente, die sich nicht festhalten ließen. Sie lachen über Irrtümer, auch über die eigenen, wenn auch längst nicht über alle.
Wie ich nach Marburg kam
Wenn man 1966 in Nordhessen Abitur gemacht hatte, ein nobles Fach wie Literatur, Geschichte, Soziologie oder Philosophie studieren wollte (keineswegs ei
udieren wollte (keineswegs eines von denen, die damals ohne Ansehen waren wie Jura oder Volkswirtschaft), wenn man 1966 wegen der großen Koalition aus der SPD ausgetreten war, wenn man wissen wollte, warum die einen reich waren und nicht arbeiteten, während die anderen, mein Vater etwa, viel arbeiteten, schlecht dafür entlohnt wurden und trotzdem die Bild-Zeitung lasen, wenn man wissen wollte, warum Herr Eisenberg, der einzige überlebende Jude in meinem Ort, immer noch isoliert war, während der Massenmörder, der neben uns seinen Garten pflegte, ein angesehener Mann blieb; wenn man wissen wollte, warum der Polizeichef von Saigon mit dem Segen der Amerikaner auf dem berühmten Foto einem jungen Vietnamesen das Gehirn aus dem Kopf schießen durfte, wie es unser Nachbar früher in Polen mit den Juden gemacht hatte, wenn man so war und das alles wissen wollte, vielleicht sogar, wie dies alles zu ändern sei, dann hatte man damals nur die Wahl zwischen Frankfurt und Marburg, zwischen Adorno und Abendroth. Für die Juristen kam noch Gießen dazu, wegen Ridder. Aber Jurist wollte ich aus erwähnten Prestigegründen nicht werden.Frankfurt lag ferner. Schon nach Autobahnkilometern. Frankfurt war eine Großstadt, ziemlich unübersichtlich für einen jungen Mann vom Land. Die Stadt dominierte die Universität, nicht umgekehrt. Aber auch sonst lag Frankfurt ferner. Die paar kleinen Texte von Adorno, die ich kannte, waren zu schlau für mich, hatten nicht die Sprache, die ich kannte. Es war faszinierend, aber es war mir zu fremd. Auch das Bürgerliche darin, das ich gerochen haben muss. Liberales, kunstsinniges Bürgertum gab es in meinem Nordhessen so wenig wie Marxismus und Donauerschinger Musiktage. Zu fern.Also Marburg. Die gleiche Landschaft wie bei uns. Ein kleiner Ort auch, nur größer und vor allem geistgesättigt, was von Hofgeismar noch nie jemand behauptet hat. Eine richtige deutsche Universitätsstadt. Alles war Universität, selbst die Verbindungshäuser und das Schloss und die Kliniken. Universität mit den Beringwerken hinterm Berg und einem kleinen Bahnhof, das war Marburg. Protestantisch von Philipp dem Zweiten bis Bultmann. Die erste protestantische Universität Deutschlands. Heftig protestantisch war ich bis vor ein paar Jahren auch gewesen, sogar mit leichtem pietistischen Beigeschmack. Ich war sehr moralisch, wenn auch nicht jederzeit, bibelfest, aber mit schlechten Lateinkenntnissen, was vom späten Wechsel aufs Gymnasium herrührte, romantisch auch, wie Bettina und Clemens und Achim und Savigny und die Grimms, die hier gewohnt hatten. Ich wusste das damals nicht. Aber es passte, wenn ich es auch nicht zugegeben hätte.Bescheidenes Elternhaus, provinzielle Herkunft, ohne Weltläufigkeit, Drang ins Offene, Protestantismus, als erstes wirkliches Buch die Bibel, die ersten Versuche in Texthermeneutik in den Bibelstunden des Christlichen Vereins junger Männer, gestreift von pietistischer Gefühlskultur, mit dem Leben nur aus den Büchern vertraut, voller romantischem Unbehagen an der Normalität und Sehnsucht nach etwas Großen, Ganzen und Gerechten, schwankend zwischen einem Ich geradezu Fichteschen Ausmaßes und dem, was die Psychoanalytiker Kleinheitsselbst nennen - kurz: ich war ausgestattet mit dem Besten und dem Schlechtesten, was die deutsche Geistesgeschichte zwischen 1500 und - sagen wir - 1815 ausmacht. Nur eben im ganz, ganz Kleinen, als grobe Prägung, kaum als Wissen. Aber Marburg war ja auch klein. Das traf sich gut. Das weitere 19. Jahrhundert war in mir wenig vertreten. Von den Treibels hatte ich nichts und kannte ich nichts, von den Buddenbrooks noch weniger. Die Frankfurter Universität wurde gegründet, als in Deutschland die Treibels dran waren. In die Frankfurter Universität hätte ich nicht gepasst. Ich hatte das 19. Jahrhundert erst nachzuholen, um in der Gegenwart anzukommen, die bürgerliche Revolution und die Geschichte der Arbeiterbewegung.Die freilich nicht ganz. Mein Vater kam aus der Sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Hamburgs am Ende der Weimarer Republik. Er hasste die Nazis. Und er hat seinen Gewerkschaftsbeitrag bezahlt bis zum Ende, als das Geld schon überwiesen statt kassiert wurde, was ihn störte. Aber er redete nicht häufig darüber, schon wegen meiner Mutter, die gern so sein wollte wie die anderen in Hofgeismar. Ich wollte aber gern darüber reden, schon als Kind. Man merkt, alles lief mit geradezu eherner Notwendigkeit auf Marburg hinaus, auf Germanistik und Politische Wissenschaften und ein bisschen Philosophie fürs Lehramt, auf Abendroth und die Geschichte der Arbeiterbewegung.Berufspraktische Überlegungen spielten keine Rolle. Die Aussicht, Studienrat zu werden, kam jemandem wie mir, dem die Mutter die mittlere Inspektorenlaufbahn auf dem heimischen Landratsamt zugedacht hatte, ziemlich glänzend vor. Und Studienrat konnte damals beinahe jeder von den fünf Prozent eines Jahrgangs werden, die das Abitur schafften. Und wer das Abitur schaffte, schaffte in sechs Jahren auch das Staatsexamen. Notfalls mit vier minus. Das reichte damals noch. 1966 ist lange her.In der SprechstundeIch habe Abendroth dann bald bei Studentenvollversammlungen gehört, wo er als einziger Professor immer willkommen war, ja erwartet wurde. Er saß mit zerknittertem Anzug und verrutschtem Schlips auf den Stufen des Audimax, hatte schlohweißes Haar, eine dicke Brille und wirkte doch jung. Ohne sich anzubiedern, löschte er den Generations- und den Hierarchieunterschied einfach aus. Das konnte keiner sonst und das funktionierte nur, weil es ihm in Fleisch und Blut war. Im Seminar, in dem an meinem Studienanfang circa 100 Studenten saßen, stellte er am Anfang immer eine didaktische Frage, weil das gerade Mode wurde. Sie war von der Art "Wie hieß noch die große deutsche Revolutionärin, die 1919 ermordet, wurde...", Stille, "die man dann im Landwehrkanal fand", Glucksen, "weiß es keiner?" Bis dann einer, der es nicht begriffen hatte, unter allgemeinem Lachen Rosa Luxemburg sagte und von Abendroth ganz überschwänglich dafür gelobt wurde. Dann nahm er erleichtert das Wort und hielt zwei Stunden Vorlesung, bei der man keine Stecknadel hätte fallen hören können und keiner auf die Uhr schaute. Sie war nie vorbereitet. Sie hätte immer weiter gehen können. Sie vermittelte allemal den Eindruck, dass er alles wusste über die Geschichte der Arbeiterbewegung. Erlebtes, Erinnertes, Gehörtes und Erforschtes flossen ungetrennt zusammen zu einer Erzählung, die nie die Frage aufkommen ließ, warum man das wissen solle.Zum ersten Mal saß ich ihm gegenüber, als es in der Sprechstunde das Thema für die Hausarbeit auszumachen galt. Zweimal kam ich vergeblich, weil er auch bei den Sprechstunden die Zeit vergaß und die später Kommenden unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen mussten. Er saß, nein, er lag halb im grauen Anzug und einem Hemd ohne Manschettenknöpfe mit sehr großen Füßen und großen, sich gestisch selbstständig machenden Händen auf einer Art Sofa, begrüßte mich freudig, als seien wir alte Bekannte, fragte nach meinem Alter und meinem Herkommen. Ich schämte mich ein wenig ob der geringen Bedeutung der Stadt, aus der ich kam, und sagte, man müsse sie nicht kennen. "Hofgeismar? Aber das liegt doch 15 Kilometer von Hohenkirchen, wo Rudolf Rocker war." Hohenkirchen ist noch viel kleiner als Hofgeismar. Ich kannte den dortigen Pfarrer und ein allerdings hübsches Mädchen aus meiner ehemaligen Parallelklasse. Rudolf Rocker kannte ich nicht. Aber der Name gefiel mir. Abendroth brachte er in Fahrt. Er zündete sich hastig eine neue Zigarette an der Glut der vorigen an und begann mir Rockers Lebensgeschichte zu erzählen, der in der alten, revolutionären SPD schon den revisionistischen Kurs der Parteiführung bekämpft hatte, ausgeschlossen wurde, sich dem Anarchismus zuwandte, mit Kropotkin befreundet war, nach Paris und dann nach London emigrierte, dort Streiks anzettelte, Arbeiterbildungsvereine und Gewerkschaften gründete, interniert wurde, 1918 zur Revolution nach Deutschland zurückkam, 1933 wieder ins Exil ging und schließlich in New York starb, blind, aber ungebrochen. Beiläufig kam auch Hohenkirchen vor. Beim Erzählen klopfte er die Asche seiner Zigaretten auf seine graue Hose, verrieb sie gedankenlos und erzählte ungerührt weiter. Nur die Kippen drückte er im Aschenbecher aus, den die Sekretärin regelmäßig lehrte, nicht ohne folgenlos die Bemerkung zu wiederholen, nun müsse der Herr Student aber gehen. Er erzählte die Geschichte Rockers, als sei sie seine eigene gewesen und ein bisschen war das auch so, denn auch er war ja mehrfach aus der SPD ausgeschlossen und dann wegen der SPD aus der SBZ und irgendwie immer Dissident. Und immer auch ein bisschen Anarchist, zumindest, wenn er die Asche auf den Anzug schnipste. Theoretisch natürlich nicht, aber er sagte auch nichts Schlechtes über Rudolf Rocker, sprach über ihn, wie über jemanden aus der Familie spricht, der gelegentlich Dummheiten gemacht hat, aber kein schlechter Kerl war. Am Ende bestimmte er mich, ich solle Rockers Hohenkirchner Zeit erforschen, als Aufgabe viel zu schwer für mich natürlich.Einer von unsAußerhalb der Zeit, wenn er erzählte, und doch darin, Geschichte ganz als Gegenwart, sichtbar nichts wollend für sich selbst, außer sein Wissen zu verbreiten (von den Zigaretten natürlich abgesehen), Sozialist mit einem großen Herzen für Dissidenz, für Anarchie, gütig, aber unbeugsam: Abendroth war einer, war vielleicht der einzige der linken Hochschullehrer, der seine Lehre so mit seiner Existenz beglaubigte, dass kein Verdacht dazwischen Platz fand. Das machte ihn aus, der Enthusiasmus des Wissens und dessen Beglaubigung durch das eigene Leben. Seine Schriften sind von vergleichsweise geringer Bedeutung. Er musste persönlich dabei sein, sonst wirkte der Zauber nicht. Für Jugendliche, die gerade erst bei den Eltern und dann bei den Lehrern und dann bei den Politikern entdeckt haben, dass da ein weites, dunkles Feld ist zwischen Reden und Handeln, ein weites dunkles Feld, das sie bei sich selbst nie zuzulassen sich gerade vorgenommen haben, wirken Menschen wie Abendroth unwiderstehlich. So gesehen war er jung, dieser Mann in dem von Gefängnis und Verfolgung verbrauchten Körper, einer von uns. Und zugleich war er ein Lehrer. Hohenkirchen sah auf einmal anders aus, rockiger, anarchischer, mit weiter Perspektive auf Paris, London und New York. Es war gar nicht immer so gewesen in Nordhessen, wie ich es erlebt habe, die Geschichte begann nicht in den fünfziger Jahren und musste auch nicht immer so weiter gehen. Das hat er vermittelt, so, dass ich es verstehen konnte. Dauerhaft. nKarl-Heinz Götze ist Professor für deutsche Literatur und Landeskunde an der Universität Aix-en-Provence. Er hat Bücher über die Geschichte der Germanistik, über Böll, Koeppen und Weiss, über das heutige Frankreich und über die französische Küche und ihre Köche veröffentlicht.
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