Ein Wolf führt sein Rudel

Jemen Anwar al-Awlaki, US-Bürger jemenitischer Herkunft, findet sich als Al-Qaida-Ideologe auf einer Todesliste der CIA. Er soll auch hinter den Paketbomben aus Sanaa stehen

Seine Predigten sind im Internet abrufbar und eine Botschaft an jeden Muslim, auf Gewalt zu setzen, wenn es darauf ankommt, dem Wort des Propheten zu genügen. Als Ende Oktober in London gegen die britische Staatsbürgerin Roshonara Choudhry verhandelt wird, ergeben Zeugenaussagen von Freunden wie Verhörprotokolle der Polizei: Diese Angeklagte ist durch Anwar al-Awlaki radikalisiert worden. Choudhry fühlte sich dazu berufen, am 14. Mai ein Messerattentat auf den Unterhausabgeordneten Stephen Timm zu verüben.

Antiterror-Expertisen der US-Regierung gehen davon aus, dass Anwar al-Awlaki – 39-jähriger Jemenite mit amerikanischer Staatsbürgerschaft – zu den Hauptverdächtigen gehört, die geistlichen Beistand für den vereitelten Paket-Bomben-Anschlag auf jüdische Gruppen in Chicago geleistet haben. Immerhin gilt al-Awlaki seit 2004 als spiritueller Führer des Al-Qaida-Netzwerks auf der Arabischen Halbinsel (AQAP). Als er noch in den USA lebte, sollen seine Auftritte als Prediger auch den drei Flugzeugentführern gefallen haben, die sich am 11. September 2001 mit gekaperten Maschinen in das World Trade Center und das Pentagon stürzten. Die US-Behörden stufen al-Awlaki inzwischen als „Rekrutierer und Motivator“ für al-Qaida ein. Versiert im Umgang mit sozialen Medien wie Facebook und YouTube, um seine Jihad-Appelle zu lancieren.

Vergangen und vergessen

Die Videos des unversöhnlichen Missionars sind trotz der Gefahren, die von ihnen ausgehen, auf Youtube präsent. Gerade erst hat Antony Weiner, Abgeordneter der Demokraten im US-Kongress, das Internetmedium aufgefordert, etwa 700 Sequenzen zu löschen, weil sie latenter Manipulation dienten. „Es gibt keinen Grund, weshalb Mördern wie al-Awlaki eine solche Einflusssphäre zugänglich ist, damit sie zu weiteren Gewalttaten anstiften können“, so Weiner gegenüber den New York Daily News. Youtube reagierte, indem Videos entfernt wurden, wenn sie von der Community markiert waren oder zweifelsfrei von bekannten terroristischen Organisationen stammten, die für „gefährliche oder illegale Aktivitäten werben“, wie es hieß. Angeblich verfügte Youtube über keine detaillierten Informationen zu den Dokumenten, die Antony Weiner beanstandete. Im März erklärte Google als Eigentümer der Plattform, in jeder Minute würden weltweit 20 Stunden Videomaterial hochgeladen. Es sei vollkommen ausgeschlossen, dass eigenes Personal dieses Mega-Angebot zunächst prüfe.

Anwar al-Awlaki stand bereits vor dem 29. Oktober, als es den Bombenfund in der Luftfracht für Chicago gab, als einziger US-Bürger auf einer Todesliste der CIA – eingestuft als hoch gefährlich, freigegeben zum gezielten Töten. Vergangen und vergessen ist die Zeit, da al-Awlaki kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 vom US-Verteidigungsministerium engagiert war, im Pentagon Vorträge über die Integration von Muslimen in der US-Gesellschaft zu halten.

Anwar al-Awlaki wurde 1971 im Staat New Mexico als Sohn jemenitischer Eltern geboren. Bevor er 2004 endgültig in die Heimat seiner Vorfahren übersiedelte, hat er 18 Monate in London gelebt. Heute pendelt er zwischen Shabwa oder Mareb in der jemenitisch-saudischen Grenzregion, wo Jihadisten stets einen sicheren Rückzugsort finden. Der Verdacht, dass er an terroristischen Anschlägen beteiligt sein könnte, erhärtete sich, als bekannt wurde, dass al-Awlaki mit Nidal Hasan in Kontakt stand, dem Armee-Psychologen, der am 5. November 2009 im Militärcamp Fort Hood (Texas) 13 Kameraden erschoss. In einer ersten Mail an al-Awlaki hatte Hasan den ehemaligen Imam ­gefragt, ob er – nach islamischem Recht – die ­Erschießung von US-Soldaten auf amerikanischem Boden für gerechtfertigt halte. Diese Nachricht wurde am 17. Dezember 2008 verschickt und durch das FBI abgefangen, dem es nicht gelang, den Amokläufer aufzuhalten, bevor der elf Monate später ein Massaker verübte.

Kontakt mit Abdulmutallab

Obwohl die Korrespondenz mit Nidal Hasan außer Zweifel stand, konnte al-Awlaki weiter ungehindert im Jemen operieren und war nach Ermittlungen der US-Behörden am 25. Dezember 2009 in den missglückten Anschlag auf ein Passagierflugzeug verstrickt. Rashad al-Alimi, Jemens stellvertretender Minister für Verteidigung, gab unmittelbar danach bekannt: Umar Farouk Abdulmutallab, der nigerianische Attentäter, habe Sprengstoff am Körper getragen und sei al-Awlaki während eines Aufenthalts im Jemen begegnet.

Tatsächlich war Abdulmutallab Ende August 2009 mit einem Studentenvisum eingereist und zuletzt am 21. September gesehen worden. Am 5. Dezember kehrte er zurück, um den Jemen schon zwei Tage später wieder zu verlassen, haben die dortigen Behörden registriert. Vizeminister al-Alimi zufolge traf Abdulmutallab während der elf Wochen, in denen er verschwunden schien, in einem Bauernhaus der Ortschaft Rafad (Provinz Shabwa) Anführer von al-Qaida, vermutlich auch Anwar al-Awlaki.

Der wird gleichsam mit Faisal Shahzad in Verbindung gebracht, den gescheiterten Times-Square-Attentäter vom 1. Mai 2010. Shahzad, den Afghanistan-General David Petraeus als „einsamen Wolf“ beschreibt, soll Vollzugsbeamten im Gefängnis versichert haben, er sei „Sympathisant und Anhänger“ Anwar al-Awlakis. Was die US-Behörden dazu gebracht hat, den militanten Prediger als maßgebliche Figur bei der Rekrutierung englischsprachiger Muslime für Gräueltaten im Stile al-Qaidas einzustufen.

Vikram Dodd ist Gerichtskorrespondent des Guardian, Charles Arthur leitender Redakteur des Ressorts Technology Übersetzung: Christine Käppeler

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