Bis Mitte August will sich der designierte tschechische Premier Stanislav Gross mit seinem neuen Kabinett Zeit lassen. Es könnte trotzdem knapp werden, steht er doch vor einer fast unlösbaren Mission: Gerade 8,8 Prozent der Stimmen erreichte die regierende CSSD bei den Europawahlen. Nun muss Gross, der den zurückgetretenen Regierungschef Vladimir Spidla abgelöst hat, das Kunststück vollbringen, einerseits seine rechtsliberalen Koalitionäre bei der Stange zu halten und andererseits den linken Parteiflügel nicht noch mehr zu brüskieren, der mit offener Rebellion droht. Mehrere CSSD-Abgeordnete haben beteuert, sie würden Gross nur dann unterstützen, wenn der ein klar linkes Programm vorlegt. "Ich bin doch kein Abstimmungsaffe, der alles einfac
fach absegnet, was die Führung vorlegt", gibt der Parlamentarier Miroslav Svoboda die Stimmung der Parteilinken wieder.Dass Gross ein Kabinett modellieren kann, das eine sozialere Politik vertritt, als Spidla das tat, bezweifelt auch Ex-Außenminister Jan Kavan - ein enger Vertrauter von Milos Zeman, dem aus der Pension kräftig mitmischenden Übervater der tschechischen Sozialdemokratie. Obwohl Zeman inzwischen angeblich einen, wie es heißt, "Nichtangriffspakt" mit Gross abgeschlossen hat, ist vielen politischen Beobachtern noch deutlich im Ohr, was er über den Wechsel von Spidla zu seinem bisherigen Stellvertreter Gross gesagt hat: "Man kann doch das Debakel nicht dadurch reparieren, dass man den Mann, der in der wichtigsten Position versagte, durch den Mann ersetzt, der in der zweitwichtigsten Position versagte." Als "Ratten", die sozialdemokratische Grundsätze verraten hätten und deshalb "bildlich gesprochen herausgeschossen gehören", titulierte Zeman seine Genossen Spidla Gross.Bei aller persönlichen Animosität griff Zeman mit dieser drastischen Wortmeldung letztlich nur eine in der Partei weit verbreitete Seelenlage auf: Oft musste sich Spidla den Vorwurf gefallen lassen, er hätte unsensibel, ja autistisch regiert und sich von den beiden Juniorpartnern in der Koalition majorisieren lassen. Als Parteichef war Spidla, der wirtschaftspolitisch eher zum Liberalismus als zum Sozialismus tendierte, tatsächlich eine Fehlbesetzung. Dem Mann fehlte jegliche Gabe, sich der Basis verständlich zu machen. "Unter Eingeweihten kann er hervorragend argumentieren, die Allgemeinheit speist er mit auswendig gelernten Phrasen ab", bestätigt Parlamentspräsident Lubomir Zaoralek.Als Premier war Spidla etwas erfolgreicher, verteidigte aber sehr oft Positionen, die weder beim Wahlvolk noch in der Partei beliebt waren. Daran konnte auch das Faktum nichts ändern, dass Tschechien unter Spidlas Kabinett den Beitritt zur EU vollendete und dabei im Rahmen des Möglichen durchaus gute Konditionen aushandelte. Trotzdem bemängelten rechte ebenso wie parteiinterne Kritiker zumindest zwei Punkte: zu geringe Subventionen für die Landwirtschaft und zu lange Übergangsfristen beim Zugang der Tschechen zum europäischen Arbeitsmarkt.Die Härten, die tschechische Landwirte nach der EU-Aufnahme zu erwarten haben, versuchten die Sozialdemokraten daher durch die Errichtung einer staatlichen Agentur zu mildern, die Zuschüsse an die Bauern vergeben und über deren Verwendung wachen soll. Außerdem startete die Regierung eine PR-Kampagne für tschechische Lebensmittel. Die seit zwei Jahren fallenden Erlöse beim Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten vermochte aber auch Agrarminister Jaroslav Palas nicht aufzuhalten. Dass die Regierung indessen den ermäßigten Steuersatz auf Nahrungsmittel, Trinkwasser, Arzneimittel, Bücher und Rundfunk beibehalten hat, war hingegen einer der ganz wenigen Punkte von Spidlas Politik, die auch die sozialdemokratische Basis goutierte.Es überrascht alles in allem nicht, dass zu den besonders oft genannten Gründen für die tiefe Krise der tschechischen Sozialdemokratie ihre Sozialpolitik zählt. Hier war die CSSD fast von Anfang an in der Klemme: Einerseits wurde die Führung um Spidla von der eigenen Klientel als zu liberal kritisiert, andererseits warf ihr die Rechte vor, die Reform des Pensions- und Krankenkassensystems kaum voranzubringen. In Sachen Pensionen liegt nun immerhin ein sozialdemokratischer Entwurf vor, der von einem fiktiven Pensionskonto ausgeht, auf das jeder Beschäftigte während seines Lebens einzahlt. Die Lage im Gesundheitswesen ist dramatischer - nicht zuletzt deshalb, weil nach den verrückten Ideen der inzwischen zurückgetretenen Gesundheitsministerin Maria Soukac?kova kaum noch Änderungsvorschläge gemacht werden. Soukac?kova wollte dem tschechischen System eine Rosskur verordnen und plädierte dafür, binnen vier Jahren die Hälfte aller staatlichen Krankenhäuser zu schließen und Arztbesuche durchgängig kostenpflichtig zu machen.Erfolge in Sachen EU-Integration, eine durchwachsene Bilanz in der Wirtschaftspolitik und kaum Erfolge bei den Reformen des Sozialwesens, so ließen sich die zwei Jahre der sozialdemokratisch-liberalen Koalition zusammenfassen, die bei den Europawahlen ein Debakel heraufbeschworen und Gross nun vor die schwierige Aufgabe stellen, eine Koalition zu etablieren, die nicht sofort wieder zerfällt und auch noch das Vertrauen der Wähler wiedergewinnt. Da er offenbar eine Wiederauflage der Koalition mit der liberalen Freiheitsunion und den Christdemokraten anstrebt, steht zu befürchten, dass Gross wie sein Vorgänger Spidla zwischen den Wünschen der eigenen Partei und den Forderungen der Koalitionäre aufgerieben wird. Eine Alternative scheint kaum möglich. Die immer wieder ins Spiel gebrachte Möglichkeit einer Minderheitsregierung mit KP-Tolerierung bleibt unwahrscheinlich. Denn scheitert der Regierungschef, und kommt es doch zu vorgezogenen Wahlen, dürften davon gerade die Kommunisten profitieren, die bei den Europawahlen zweitstärkste Partei wurden. Warum sollten die sich jetzt durch eine wie auch immer geartete Teilhabe an der Regierung verschleißen?