Dahr Jamail arbeitet als unabhängiger Journalist im Irak und gehört zu den wenigen, von den US-Streitkräften nicht "eingebetteten" Korrespondenten. Seine Reportagen aus Bagdad und anderen irakischen Städten stehen in dem Ruf, einen kompromisslos realistischen Blick auf das Leben unter der Besatzung zu werfen.
FREITAG: Verglichen mit den übrigen Medien liefern Ihre Reportagen ein völlig anderes Bild der Lage im Irak. Was sehen Sie anders?
DAHR JAMAIL: Die Lage in Falludscha zum Beispiel - eine bis heute militärisch abgeriegelte Stadt, in der zu leben der reinste Horror sein kann. Mindestens 65 Prozent der Gebäude sind völlig zerbombt, der Rest massiv beschädigt. Es gibt keinen Strom, kein Wasser und natürlich keine Jobs. Bewohnern, die wieder in ihre Stadt wollen, werden Fingerabdrücke abgenommen, und sie müssen die Iris ihrer Augen scannen lassen, um einen Personalausweis zu bekommen. Es wimmelt von Heckenschützen, das einzig verbliebene Krankenhaus ist das Falludscha General Hospital. Die Leute müssen allerdings durch mehrere Checkpoints, um hin zu kommen.
Die meisten Einwohner der Stadt sind inzwischen Flüchtlinge und bleiben es. Sie leben verstreut über kleine Gemeinden in den Außenbezirken Falludschas, Bagdads und anderer Großstädte. Nach neuesten Schätzungen, die mir zu Ohren kamen, sind bislang nur 25.000 Personen nach Falludscha zurückgekehrt - in eine Stadt, die einmal 350.000 Einwohner hatte.
Als die US-Armee Ende 2004 Falludscha angriff, war es ihr erklärtes Ziel, den Widerstand auszuschalten. Hatte sie nach Ihrem Eindruck Erfolg?
Soweit ich die Lage beurteilen kann, gab es vorrangig zwei Gründe, weshalb sie mit Falludscha taten, was sie taten: Sie wollten Sicherheit und Stabilität für die Wahlen am 30. Januar herstellen und eines der Zentren des inneren Widerstandes zerschlagen. Nur hatten die meisten Kämpfer die Stadt vor der Belagerung bereits verlassen - das geben die Amerikaner inzwischen selbst zu. Folglich handelt es sich bei den etwa 3.000 Getöteten vorwiegend um Zivilisten, weil Falludscha zur "Free-Fire-Zone" erklärt wurde. Das heißt, man macht bis heute keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Kämpfern - ein Verstoß gegen internationales Recht. Die Operation Falludscha hat dazu geführt, dass der Widerstand im Land weiter gestreut wurde.
Wie ist das zu verstehen?
Das lässt sich sehr gut am Beispiel Ramadis erkennen. Anstatt diese Stadt abzuriegeln, nahmen sich die Amerikaner dort Viertel um Viertel vor. Das bedeutete aber, wurde ein Quartier durchkämmt, bewegten sich die Kämpfer einfach ins nächste, und wenn das Militär abzog, kehrten sie zurück. Dies geschieht so in Samarra, in Baquba, in Mossul, selbst in Teilen Bagdads, da die US-Militärs ihre Strategie seit Beginn der Okkupation nicht verändert haben. Dadurch sorgen sie jedoch nur für eine Verbreiterung des Widerstands, nicht nur auf andere Stadtviertel, sondern das ganze Land.
Meinen Sie damit, dass die Iraker in andere Städte gehen und dort rekrutieren? Oder meinen Sie, dass die US-Armee mit ihrem Vorgehen die Leute dazu treibt, sich dem Widerstand anzuschließen?
Beides. Die meisten Kämpfer wissen, wann die USA eine neue Offensive starten und verschwinden vorher. Denn wir haben es im Irak mit einem Guerillakrieg zu tun, und eines von dessen Grundprinzipien lautet: Greife nicht an, wenn es erwartet wird, sondern dann, wenn keiner damit rechnet. Das heißt, die Guerilla versucht gar nicht erst, sich mit dem US-Militär 1 : 1 zu messen.
Hinzu kommt Folgendes: Stellen Sie sich vor, wir beide sind Brüder und leben in einem vorwiegend von Stammeskulturen geprägten Land. Jemand tötet Sie, und ich räche Ihren Tod nicht. Damit würde ich meine Familie entehren. Es wird geschätzt, dass rund 100.000 Iraker im Verlauf dieser Okkupation ihr Leben verloren - überwiegend durch die Besatzungstruppen. Es lässt sich leicht ausrechnen, wie viel Zulauf der Widerstand inzwischen allein dadurch erhält.
Die Medien berichten nicht über die sich erneut häufenden Bombardierungen durch die Amerikaner im Irak - was wissen Sie darüber?
Eines der definitiv völlig unterbelichteten Themen. Tag für Tag werden Lufteinsätze geflogen und riesige Mengen Bomben abgeworfen. Im Grunde sterben die allermeisten irakischen Zivilisten durch diese Angriffe aus der Luft. Nehmen wir noch einmal Falludscha - mit ziemlicher Sicherheit kam dort die Mehrheit der 3.000 Opfer auf diese Weise ums Leben. Ich kann gar nicht sagen, wie viele Flüchtlinge mir berichteten, dass US-Flugzeuge ganze Häuserblocks in Schutt und Asche legten. Bis heute liegen Leichen unter diesen Trümmern. Die Amerikaner glauben, wenn sie bombardieren, senden sie eine klare Botschaft.
Welche sollte das sein?
Wenn ihr euch weiter gegen die Besatzung auflehnt, werden wir alle um euch herum ebenfalls bombardieren - eine Art Kollektivstrafe. In Falludscha haben mir mehrere Leute erzählt, wie das US-Militär vor der Belagerung im November zu Informationen über potenzielle Bombenziele kam: Jeder Iraker, der wollte, marschierte einfach zur US-Militärbasis vor Falludscha und sagte: "Ja, in dem und dem Haus hält sich ein Kämpfer auf". Dafür seien zwischen 100 und 500 Dollar gezahlt worden. Und das denunzierte Haus wurde bombardiert, unter Umständen eine alte Rechnung beglichen und Cash kassiert. Natürlich stimmte es in manchen Fällen, dann hielten sich dort tatsächlich Kämpfer auf. Zumeist aber war das nicht der Fall - wie man sich leicht vorstellen kann.
Die Bush-Regierung behauptet, die Wahl vom 30. Januar habe gezeigt, die Demokratie sei auf dem Vormarsch.
Eine Wahl ist noch lang keine Demokratie. Demokratie heißt, dem Willen des Volkes wird Rechnung getragen - von einer Regierung, die das Volk gewählt hat. Bisher gibt es die nicht. Ich denke, Erfolge im Irak sollten an dem gemessen werden, was die Bush-Regierung versprochen hat - ein besseres Leben, Jobs, die es den Menschen erlauben, das Land wiederaufzubauen und eine wirklich repräsentative Regierung. Nichts davon kam bisher zustande. Es gibt heute viel weniger Strom als vor dem Krieg, es gibt eine geringere Ölförderung. Irak leidet unter einer Benzinkrise, wie es sie noch nie gab. Die Menschen müssen jeden Tag kämpfen, um über die Runden zu kommen - eine Situation, schlimmer als vor dem Einmarsch. Die Besatzung dauert nun über zwei Jahre, so dass mich Leute fragen: "Wo sind die Erfolgsgeschichten, was ist an Positivem entstanden?" und mir sagen, das einzig Gute an der Invasion ist die Tatsache, dass Saddam Hussein weg ist. Sonst sei alles schlechter geworden, in jeder Hinsicht - ich zitiere hier wohlgemerkt Iraker.
Die Vorstellung einer tiefverwurzelten Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten durchzieht die westliche Wahrnehmung des Irak. Ein zutreffendes Bild der Verhältnisse?
Die Medien im Westen übertreiben die Gefahr eines Bürgerkrieges. Wenn ich im Irak jemanden frage: "Sunnit oder Schiit?", antworten die meisten: "Ich bin Moslem, und ich bin Iraker". Der Rest ist Schweigen. Zudem darf nicht vergessen werden, der Irak ist in erster Linie eine Stammeskultur; viele Stämme sind halb sunnitisch und halb schiitisch. Viele Ehen sind sunnitisch-schiitische Partnerschaften. Auf das Bürgerkriegsrisiko angesprochen, sagen die Leute: "Was, Bürgerkrieg? Heißt das, ich muss gegen meine eigene Frau kämpfen?"
Das Gespräch führte Eric Ruder
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