Eine Art Selbstverstümmelung

Im Gespräch Claude Dilain, Bürgermeister von Clichy-sous-Bois bei Paris, über soziale Gettos und eine Gesellschaft, die assimilieren, aber nicht integrieren will

Der Kinderarzt Claude Dilain gehört der Sozialistischen Partei an und ist seit 1995 Bürgermeister von Clichy-sous-Bois. Dort hatten im November 2005 nach dem Tod zweier Jugendlicher, die auf der Flucht vor der Polizei einen tödlichen Stromschlag erlitten, die Unruhen in den Banlieues ihren Ausgangspunkt. Seither kommt Frankreich nicht mehr zur Ruhe.

FREITAG: In Deutschland wurden die Banlieue-Unruhen so präsentiert: Jeden Morgen gab der Rundfunk die Zahl der nachts verbrannten Autos durch, und jeden Morgen stieg die Zahl.
CLAUDE DILAIN: Die Lage war ernst, da gibt es nichts zu bagatellisieren. Aber die Medien haben ein verzerrtes Bild der Ereignisse gezeigt, speziell von Clichy-sous-Bois. Am schlimmsten Abend der Unruhen gab es entlang von 40 Kilometern Straße, die zu unserer Gemeinde gehören, insgesamt nur auf einer Strecke von anderthalb Kilometern Probleme. Die Clichois hatten mehr Angst vor dem, was sie im Fernsehen sahen, als vor dem, was wirklich passierte.

Was bedrängt die Einwohner von Clichy?
Kaum eine große Armut, sondern das Gefühl von Ausschluss und Ungleichheit. Und dabei meine ich "vielfältige" und "essenzielle" Ungleichheiten, weil sie fast alles betreffen: das Wohnen, den Transport, die Bildung, die Sicherheit, die Gesundheit. "Essenziell" deshalb, weil sie das Leben tagtäglich betreffen. Wenn Sie mit dem öffentlichen Nahverkehrsnetz nicht zur Arbeit kommen können, dann erleben Sie das täglich. Und wenn Sie das Versagen der Schulen sehen, dann denken Sie auch jeden Tag, dass Ihr Kind in Clichy nicht dieselben Chancen hat wie anderswo.

Ist diese desolate Situation ein Ergebnis der Gettoisierung?
Sie ist vor allem eine Folge der Tatsache, dass sich die französische Gesellschaft schrittweise von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verabschiedet - und damit vom Fundament der Republik. Nach und nach streben die Franzosen nicht mehr nach Solidarität, sondern nach einer Gesellschaft des Wettbewerbs. Und in einer solchen Gesellschaft gibt es Gewinner und Verlierer. Natürlich zieht man es vor, auf Seiten der Sieger zu stehen. Wenn man sich also für seinen Wohnsitz entscheidet, stellen die künftigen Mitschüler der Kinder das erste Kriterium dar.

Also doch, Frankreich gettoisiert sich ...
Aber nicht im ethnischen Sinne, denn Clichy-sous-Bois zum Beispiel zählt 70 Nationalitäten. Aber alle Städte der Banlieue verzeichnen das gleiche Phänomen: die Flucht der Mittelklassen. Die Klassen bleiben unter sich, es gibt die Quartiers der Armen und die der Reichen. Dabei bestand der Reichtum der französischen Gesellschaft einst in ihrer sozialen Mobilität und darin, dass familiäre und soziale Herkunft eine möglichst geringe Rolle spielten.

War diese soziale Kluft der unmittelbare Grund für die Revolte vom November?
Ja. Wenn Sie auf einem Terrain leben, auf dem das Leben nicht nur zuweilen, sondern ständig schwierig ist, und wenn Sie keine Chance haben, dem zu entkommen, weder sozial noch geografisch - dann grassieren Wut, Gewalt und Hoffnungslosigkeit. Der Beweis dafür ist, dass die Ausschreitungen in erster Linie gegen sich selbst gerichtet waren. Eine Art Selbstverstümmelung.

Gehen die Bewohner von Clichy-sous-Bois zur Wahl?
Hier leben 28.300 Menschen. Vor den Unruhen waren etwa 8.000 von ihnen in die Wählerliste eingetragen. Sehr mager. Abgesehen von den Kommunalwahlen war die Enthaltung hoch. Ein großer Teil konnte oder wollte nicht an der demokratischen Debatte teilnehmen. Die Leute dachten, rechts und links seien das Gleiche, und um sie kümmere sich die Politik sowieso nicht. Die Unruhen hatten insoweit etwas Gutes, als sich dies geändert hat. Zwei, drei Wochen danach konnten wir tausend zusätzliche Einschreibungen in die Wählerliste verbuchen. Wir haben dafür auch massiv geworben.

Und die Leute haben gemerkt, dass es politische Unterschiede gibt: Die Rechte will, dass im Getto die Ordnung regiert. Die Linke sagt, man muss dieses Getto absorbieren und die französische Gesellschaft zwingen, diese Ausgrenzung zu stoppen. Viele Jugendliche, die sich in die Listen eintrugen, haben den Journalisten gesagt: "Wir wollen nicht, dass Sarkozy Präsident der Republik wird".

Was tun Sie selbst, um die Lage in Clichy zu verändern?
Die Stadt kann im außerschulischen Bereich aktiv werden, und das tut sie auch. Wir haben "Ateliers des Erfolgs" eingerichtet, von denen heute 700 Kinder profitieren, 1.400 sollen es bald sein. Wir sind davon ausgegangen, dass für viele kleine Clichois die abendlichen Hausaufgaben das Gefühl des schulischen Scheiterns um anderthalb Stunden verlängern. In Absprache mit den Lehrern haben wir deshalb Informatik-, Kunst- und Kultur-Ateliers aufgebaut, mit denen sich die Kinder in der Schule aufwerten können.

Oft heißt es, die ganze Misere war vorhersehbar, weil die Mittel, die den Assoziationen normalerweise für soziale und kulturelle Projekte zur Verfügung stehen, zuletzt stark reduziert wurden.
Gewiss, ein Vorfall hätte als Alarmsignal verstanden werden können. In Clichy gibt es die Vereinigung zur Unterstützung der eingewanderten Arbeiter (ASTI), die starke soziale Bindungen herstellt und zur Integration beiträgt. Einige Wochen vor dem Aufstand sagte man mir: "Claude, du musst unbedingt zu ihrer Vollversammlung gehen, denn die Frauen der Assoziation sind wahnsinnig wütend. Sie laufen sogar Gefahr, Dummheiten zu machen, weil sie kein Geld mehr haben". Sie wollten tatsächlich einige ihrer Aktivitäten einstellen, darunter die Französisch-Kurse, die so wichtig sind, um sich in die Gesellschaft zu integrieren, aber auch, um sich verteidigen zu können. Den Vereinigungen dafür das Geld zu streichen, hat wesentlich zur Explosion beigetragen.

Kamen die Randalierer, die es jetzt bei den Demonstrationen gegen den Ersteinstellungsvertrag (CPE) gab, vorzugsweise aus der Banlieue?
Ich weiß nur, das sind Leute, die früh die Schule verlassen haben, die nicht mehr auf ihre Familien hoffen und nicht mehr auf das System, und die seit mindestens einer Generation schwere Probleme haben. Kurzum sie haben nichts mehr zu verlieren.

Viele haben nicht verstanden, warum im November ausgerechnet die Autos der eigenen Leute zerstört wurden: Eine Geste, die einen zur Verzweiflung bringt, sie ist selbstmörderisch. Genauso wenig wurde begriffen, warum die Revoltierenden ihre Schule, ihre Sporthalle angegriffen haben. Diese Jugendlichen werfen ihr eigenes Scheitern der französischen Gesellschaft vor - zu Recht oder zu Unrecht. Ich denke, sie liegen nicht völlig richtig, aber ich versuche, sie zu verstehen, das ist mein Beruf. Sie beschuldigen die Gesellschaft und ihre Institutionen, an der Wurzel ihres Elends zu stehen. Und sie rächen sich.

Hat die Religion Einfluss auf diese Vorgänge?
Es handelt sich um eine soziale Revolte. Ich stimme Alain Finkielkraut nicht zu, der einen ethnisch-religiösen Krieg gegen die Republik sieht. Hingegen erkenne ich die Existenz des religiösen Faktors an: Kann man sich nicht mehr mit der Republik identifizieren, sucht man sich etwas anderes. Wenn sich mit dem Abgang der öffentlichen Dienste die Republik zurückzieht wie das Meer bei Ebbe, dann macht sie es möglich, sich mit einer Religion zu identifizieren, in diesem Fall mit dem Islam.

Und Frankreich hat sein Problem mit der Integration der muslimischen Gemeinde bisher kaum geregelt.
Das ist aus Gründen heraus nicht geschehen, die mit unserer Geschichte zusammenhängen: der post-kolonialen Immigration und der Tatsache, dass sich Frankreich mental nicht mit dem Kolonialismus auseinandergesetzt hat. Man hat zuweilen den Eindruck, der Algerienkrieg sei erst vor acht Tagen beendet worden. Die französische Armee hat dort gefoltert, und die Folterer leben noch. Zudem ist Frankreich kein Land der Integration, sondern der Assimilation. Es hat selbst eigene Provinzen assimiliert: Im 19. Jahrhundert hingen in Cafés Schilder: "Ausspucken und Bretonisch reden verboten". Nun kann sich der Islam aber per Definition nicht assimilieren, er kann sich nur integrieren.

Als jemand der 1968 19 Jahre alt war und die Befreiung der Frau gesehen hat, kann ich allerdings den Schleier und die Burkha nicht akzeptieren. Der Islam muss tun, was auch die katholische Kirche getan hat - wofür sie aber mehrere Jahrhunderte brauchte. Er muss einen Kompromiss zwischen öffentlicher und privater Sphäre finden. Ohne vor den fundamentalen Werten des Laizismus zurückzuweichen.

Das Gespräch führten Emmanuelle Piriot und Kamil Majchrzak


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