Auch wenn die Klagen über den Geburtenschwund groß waren – das Abendland wird so schnell nicht untergehen. Denn es werden wieder mehr Kinder geboren. Überraschenderweise löst der Schülerboom keine Freude aus. Denn die Schulen sind auf das Plus von 300.000 ABC-Schützen nicht vorbereitet. Gegenüber der bislang geltenden Prognose für 2025 beträgt der Zuwachs sogar 1,1 Millionen. Das sagt der Duisburger Bildungsforscher Klaus Klemm voraus. Nur haben die Zuständigen, die Kultusminister der Länder, für ihre Planungen die falschen Prognosen zugrunde gelegt – wieder einmal. Die Folge: enge Klassenzimmer und Lehrermangel. Es war ein Fehler, jahrelang Schulen auf dem Land dichtzumachen, nur weil zwei oder drei Kinder für ei
eine erste Klasse fehlten. Was ist da schiefgelaufen?Eigentlich schon das, womit jede Schulplanung beginnt. Demografie ist ein schwieriges Geschäft. Es stützt sich auf Momentaufnahmen, arbeitet mit unsicheren Szenarien und muss ständig neu berechnet werden. Die beiden wichtigsten Eckwerte der letzten Jahre, so die Hauptkritik von Klaus Klemm in seiner Studie „Demographische Rendite adé“, sind in der Schulplanung gar nicht enthalten: Gemeint sind die 737.575 Geburten des Jahres 2015 – die 50.000 mehr waren als erwartet – und die 1,1 Millionen Flüchtlinge, die nach Deutschland kamen. Demnächst präsentiert das Statistische Bundesamt den Mikrozensus 2016 – danach steigen die Geburtenzahlen weiter.Die Kultusministerkonferenz (KMK) hängt eisern hinterher. Sie machte 2013 ihre letzte große Berechnung. Schon die Zuwanderung 2014 wird darin um 50.000 Personen unterschätzt – die für das Jahr 2015 sogar um 600.000. Trotzdem bleibt die KMK-Berechnung wie in Stein gemeißelt. 16 Länder planen munter weiter – mit falschen Zahlen. Das heißt, Klassengrößen werden inadäquat berechnet, Geld falsch verteilt. Hier wird eine Grundschule in Raumzellenbauweise auf die Wiese gepflanzt – obwohl man eine richtige bräuchte. Dort wird gezweifelt, ob das Gymnasium neue Klos kriegen soll – oder in drei Jahren abgerissen wird. Alles auf Sand geplant. Wenn die Zahlen nicht stimmen, gibt es ein Problem.Falsch gerechnet – abgewähltAm heikelsten bei alledem ist das Zahlenverhältnis zwischen Schülern und Lehrern. Kommen mehr Schüler, werden dadurch auch mehr Lehrer gebraucht. Doch bei sinkenden Schülerzahlen überzählige Lehrer vor die Tür zu setzen, das traut sich kein Minister. Regierungen retten sich dann lieber in die Floskel der „demografischen Rendite“, die sich aus einer einfachen Formel berechnet: Weniger Schüler plus mehr Lehrer ist gleich besserer Unterricht.Dass diese Rechnung nicht aufgeht, zeigte sich in Nordrhein-Westfalen. Das bevölkerungsreichste Land hat 200.000 Schüler weniger als vor sieben Jahren – leistet sich aber trotzdem 7.000 Lehrer mehr. Man habe diese Stellen „gezielt für die Qualitätsentwicklung, für pädagogische Innovationen und zur Unterrichtsverbesserung“ eingesetzt, sagte die grüne Schulministerin Sylvia Löhrmann. Sie wurde abgewählt, auch wegen Problemen bei der Inklusion und dem achtjährigen Gymnasium. Und die großzügige Lehrerkalkulation reichte nicht: NRW rechnete mit weniger Kindern, doch die Flüchtlinge und 15.000 Geburten mehr gegenüber 2013 stellten den Trend auf den Kopf. Jetzt fehlen dem Land Grundschullehrer.Doch auch das Gegenmodell funktioniert nicht besser. Das zeigt sich in Sachsen, wo solide Haushaltsführung zum Markenkern der CDU-geführten Staatsregierung zählt. Der Freistaat scheut dauerhafte Kosten, gerade beim Personal. In den 1990er Jahren wurden Tausende DDR-Lehrer höflich in den Ruhestand gebeten – aber kaum neue eingestellt. Im Vertrauen darauf, dass es schon genügend Nachwuchs gebe, wenn man ihn braucht, drehte die CDU auf Sparflamme. So lief es – bis vor fünf Jahren.Seitdem wurstelt sich Kultusministerin Brunhild Kurth (CDU) von Schuljahr zu Schuljahr, ringt ihrer Regierung hier ein paar Extra-Stellen, dort einige Lehramts-Studienplätze ab. Ohne Seiteneinsteiger geht seit zwei Jahren gar nichts mehr. In den Winterferien waren von lediglich 2.300 Bewerbern für eine Lehrerstelle 800 ohne pädagogische Ausbildung.Bislang griff Kultusministerin Kurth gern auf diplomierte Physiker, Chemiker, Germanisten zurück – künftig können auch Kandidaten mit Bachelor-Abschluss auf einen Job als Lehrer hoffen. Seit Jahren wird in Sachsen die unfrohe Botschaft vom demografischen Wandel von Haus zu Haus verkündet. Kindergärten verschwinden, dafür entstehen Pflegeheime. Das ewige Gerede von Dörfern, in denen bald keiner mehr wohnt, und von ganzen Landstrichen, die der Wolf zurückerobert, verdüstert die Stimmung. Und jetzt das: 2015 wurden fast 2.000 kleine Sachsen mehr geboren als 2013. Der Boom betrifft freilich nicht die Dörfer, sondern die schickeren Viertel von Dresden und Leipzig, wo bio gegessen und Rot-Grün gewählt wird. Es geht wieder aufwärts.Die Unterschiede beim Lehrerangebot sind zwischen West- und Ostländern groß. Bislang galt: im Westen Überfluss und im Osten Mangel. Inzwischen herrscht auch im Westen ein Mangel, wenn auch nicht so groß wie im Osten. Für die gut bezahlten Jobs am Gymnasium sind auf lange Sicht mehr als genug Bewerber da. In allen anderen Schulformen verdüstert sich das Bild. Besonders akut wird der Mangel in den nächsten Jahren an Berufs- und Förderschulen, die an akutem Lehrermangel leiden. Trotzdem rechnen Kultusminister im Westen weiter mit 40 Prozent Bewerberüberschuss für alle Schulformen – reine Fiktion.Solche Zahlen erwecken den falschen Eindruck, dass irgendwo noch Überfluss herrsche. In der Not hofft der Osten auf Bayern. Sachsen gräbt unten im Süden gezielt die Enttäuschten an, die dort nicht genommen wurden. Doch so viele sind das nicht. Gerade erst musste CSU-Kultusminister Ludwig Spaenle seinen Lehrern verklickern, dass es bis Sommer 2018 keinen vorzeitigen Ruhestand geben werde. In den Winterferien gingen auf einen Schlag 300 Lehrer in Pension, seitdem ist die Decke überall zu kurz. Ein Blick in die Baby-Statistik zeigt, dass etwas getan werden muss. Auch in Bayern steigt die Geburtenrate.Läuft es überhaupt noch irgendwo einigermaßen gut? Die Klemm-Studie lobt ausgerechnet Berlin. Dort rechnet der Senat mit 87.000 zusätzlichen Schülern bis 2024. Entsprechend will Rot-Rot-Grün Schulen bauen wie nie zuvor. 42 neue Gebäude sollen in den nächsten Jahren entstehen – aber weil die Bezirke das Schulbauen nicht mehr können, hat ihnen der Senat die Kompetenz dazu entzogen. Schulen werden Chefsache.Dorfschulen geschlossenVoraussichtlich werden in den Stadtstaaten die Schülerzahlen kontinuierlich in allen Schulformen steigen. Selbst die konservative Rechnung der Kultusminister geht von 30 Prozent Plus bis zum Jahr 2030 aus. In den westlichen Flächenländern geht es demnach treppenmäßig aufwärts. Im Osten könnte der Anstieg bald wieder abflauen. Dort könnten schon in 15 Jahren die Grundschulklassen wieder luftiger werden.Aus dieser Aussicht heraus wurden gerade in den fünf Ost-Flächenländern jahrelang Dorfschulen geschlossen. Bundesweit, so hat Klaus Klemm errechnet, ging seit der Jahrtausendwende in 1.800 Grundschulen das Licht aus. Ein Fehler, denn in acht Jahren wird die Republik 2.400 Grundschulen mehr brauchen als heute. Die weiterführenden Schulen trifft es auch, nur später. Also nix mit demografischer Rendite mit überzähligen Lehrern als Verschiebemasse. Stattdessen steigen die Bildungsausgaben um fünf Milliarden Euro.Noch mehr Geld dürfte wohl nötig sein, um künftig mehr junge Leute für den Lehrerberuf zu begeistern. Wer heute ein Lehramtsstudium beginnt, hat quasi Beschäftigungsgarantie, so er denn den Abschluss schafft. In einigen Ländern wird dem fertigen Absolventen der rote Teppich ausgerollt. Es locken Zulagen für die, die bereit sind, ganz weit draußen zu arbeiten. Nicht selten helfen die Schulämter sogar bei der Suche nach einer Wohnung oder einem Job für den Gatten. Noch mehr Zückerchen folgen sicher, je mehr die Not wächst. Sachsens Kultusministerin Kurth hat schon mehr als einmal laut darüber nachgedacht, Neuankömmlinge zu verbeamten. Immerhin zeigen die vielen Seiteneinsteiger, dass der Job noch immer attraktiv ist. Wenn auch erst auf dem zweiten Bildungsweg. Gescheiterte Träume als Atomphysiker oder enttäuschte Karrierewünsche im akademischen Mittelbau finden sich immer öfter vor der Klasse wieder. Sie werden in den nächsten Jahren einen großen Teil dazu beitragen, dass Schule funktioniert. Wie es gelingen kann, sie im Job nachträglich pädagogisch anzulernen, wird eine große Aufgabe für die Kultusminister. Auch dafür gibt es, wie könnte es anders sein, noch kein Konzept.
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