Eine gefährliche Illusion

Im Gespräch Der Berliner Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock über Krebs-Impfung, Prävention und aggressive Marktstrategien der Pharmaindustrie

Jungen Frauen wird seit dem Jahr 2007 empfohlen, sich vorbeugend gegen Gebärmutterhalskrebs (Cervix Ca) impfen zu lassen. Damals forderte die Ständige Impfkommission (Stiko), die Impfung gegen das Humane Papillom Virus (HPV) als Leistung in den Katalog der Gesetzlichen Krankenkassen aufzunehmen. Doch noch bevor der Gemeinsame Bundesausschuss über die Kassenleistung entschied, lösten Gesundheitswissenschaftler, darunter auch Rolf Rosenbrock, eine Debatte über Sinn und Auswirkungen dieser Präventionsmaßnahme aus. Nun hat ein Beitrag in einer englischen Fachzeitschrift, in dem die Wirksamkeit der Impfung und die der Empfehlung zugrunde liegenden Studien angezweifelt werden, die Kritiker erneut auf den Plan gerufen. In einer öffentlichen Erklärung fordern sie die Neubewertung der HPV-Impfung und "ein Ende der irreführenden Information".


FREITAG: Sie sind vergangene Woche zusammen mit zwölf anderen Wissenschaftlern an die Öffentlichkeit getreten und haben die Neubewertung der HPV-Impfung gefordert. Was war der Anlass, neuerlich zu intervenieren?
ROLF ROSENBROCK: Unsere ursprüngliche Kritik an der Impfung hatte noch unterstellt, dass die Daten der Studien, die auch der Entscheidung der Impfkommission zugrunde lagen, zutreffend seien. Allerdings hatte es schon damals erste Zweifel gegeben. Diese Zweifel haben sich nun bestätigt. Wir haben 2007 damit gerechnet, dass mit der Impfung 70 Prozent der Krebserkrankungen durch den HP-Virus beziehungsweise ihre Vorstufen verhindert werden können. Heute müssen wir von viel niedrigeren Quoten, die neuen Schätzungen liegen zum Teil bei unter 30 Prozent, ausgehen. Die Massenimpfung wird nicht den - ohnehin nur sehr langfristigen - Erfolg bringen, den wir uns nach den Ankündigungen der Pharma-Firmen erwarten durften.

Aber selbst wenn man von einer geringeren Wirksamkeit ausgeht: Friedrich Hoffmann, der Chef der Stiko, hat sich im "Spiegel" gegen Ihre Vorwürfe gewehrt und erklärt, er wolle nicht Tausende Tote auf dem Gewissen haben. Ich nehme an, das wollen Sie auch nicht?
Auf keinen Fall. Nur gibt Herr Hoffmann selbst zu, dass über die Wirksamkeit der Impfung heute nichts Genaues gesagt werden kann. Gleichzeitig spricht er von Zehntausenden von Toten, die verhütet werden könnten. Wir dagegen haben immer darauf hingewiesen, dass das Cervix-Karzinom eine sehr seltene, und zudem kontinuierlich seltener werdende Krebsart ist und wir es keineswegs mit einem epidemiologisch bedrohlichen Massenphänomen zu tun haben. Trotzdem ist jeder Krebsfall ein Krebsfall. Die aussichtsreichere Strategie, diese Krebsart zu bekämpfen, ist unseres Erachtens die seit langem fällige Verbesserung und Qualitätssicherung der Früherkennung, die normale Krebsvorsorge.

Viele Frauen gehen aber gar nicht zur Krebsvorsorge. Wäre da die Impfung nicht doch die nachhaltigere Strategie?
Das kommt darauf an, wie wir Vorsorge betreiben. Wir wissen aus den skandinavischen Ländern, dass mit einer gezielten Einladungspolitik - zum Beispiel, indem betroffene Frauen telefonisch an die Vorsorgeuntersuchung erinnert werden - die Teilnahme an der Vorsorge verbessert und die Erkrankungsrate um 20 Prozent gesenkt werden kann. Zudem ist die Früherkennungsuntersuchung in Deutschland nach wie vor nicht qualitätsgesichert. Hier liegen ungenutzte Reserven der Prävention, die auch ungenutzt bleiben, wenn man nur auf die Impfstrategie setzt.

Die Impfung wird sehr jungen Frauen, die noch keinen Geschlechtsverkehr hatten, empfohlen. Was müssten sie oder ihre Mütter wissen, wenn die Impfung weiterhin durchgeführt wird?
Vor allem die Mütter dieser Mädchen sollten über die Vor- und Nachteile der Impfung als auch der Früherkennung aufgeklärt werden. Die Impfung gegen die aggressiven HP-Viren 16 und 18 sollte also abgewogen werden gegen die regelmäßigeFrüherkennung. Entscheiden müssen sie selbst.

Sie unterstellen also, die Impfung berge auch Risiken?
Das große Risiko der Impfung besteht darin, dass wir damit in ein großes Virusuniversum intervenieren, das aus so 100 Subvarianten von HPV besteht. Wir müssen befürchten, dass wir die aggressiven Typen 16 und 18 neutralisieren und andere, harmlose Typen an diese Stelle rücken und einen Krebs verursachen, gegen den nicht mehr geimpft werden kann. Die Fachleute nennen das Sero-Replacement. Es gibt erste Hinweise in den Studien, dass es dazu kommen könnte. Das Risiko ist noch unbestimmt. Man muss aber dagegenhalten, dass die Früherkennung keine solchen Risiken enthält.

Und wie sicher ist die Früherkennung?
Theoretisch liegt die Verhinderung von Cervix Ca durch eine alle zwei bis drei Jahre erfolgende qualitätsgesicherte Früherkennung bei 90 bis 95 Prozent, de facto liegt sie nur bei 50-60 Prozent, weil die Früherkennung nicht genügend in Anspruch genommen wird. Das ist ein soziales Problem. Benachteiligte Frauen haben ein drei Mal so hohes Risiko, an dieser Krebsart zu erkranken als Frauen aus der Mittel- und Oberschicht. Zum einen, weil sie anfälliger sind - wir bringen das zum Beispiel mit dem Rauchen in Verbindung, aber auch damit, dass Menschen in beengten Lebenslagen für die meisten Erkrankungen anfälliger sind -, zum anderen aber auch, weil sie von den Vorsorgemaßnahmen nicht erreicht werden. Wie bei den meisten Krankheiten stehen wir auch hier vor dem Phänomen, dass Menschen aus benachteiligten Schichten häufiger und stärker betroffen sind.

Wir führen diese Diskussion nicht im luftleeren Raum. Kürzlich hat die "Süddeutsche Zeitung" aufgedeckt, wie aggressiv die Firma Sanofi Pasteur MSD operiert, die den Impfstoff "Gardasil" vertreibt. Offenbar geht es hier auch um die Aufteilung eines lukrativen Marktes?
Ja, natürlich geht es um Geld. Die Impfstoffe Cervarix und Gardasil waren 2007 die umsatzstärksten Arzneimittel in Deutschland, und der Markt ist noch nicht ausgeschöpft. Wir kennen die Strategien der Pharmaindustrie: Zunächst werden selektiv Studien in der Fachpresse veröffentlicht und der Eindruck großer Sicherheit und Wirksamkeit erweckt. Dann wird öffentlich ein Gesundheitsproblem lanciert, das angeblich nur mit dem Impfstoff gelöst werden kann. Das springt dann über auf die Publikumsmedien. Alle Mütter dieser Republik sind plötzlich höchst besorgt, ohne dass sie die Relationen abschätzen zu können. Vor dieser Situation steht dann die Ständige Impfkommission, die unter Druck zu einer Entscheidung gezwungen ist. Wenn dann die Kritiker kommen, werden sie als Impf- oder Technikfeinde beschimpft.

Spielen auch Kostengründe eine Rolle, dass Sie gegen die Impfung argumentieren? Sie haben die Durchimpfung eines einzigen Mädchenjahrgangs mit circa 300 Millionen Euro veranschlagt und sie verglichen mit den Mitteln, die für Prävention zur Verfügung stehen.
Bei den Zahlen, die wir letztes Jahr vorgelegt haben und die davon ausgingen, dass die Wirkstoffe so erfolgreich sind wie angekündigt, kostete ein verhüteter Krebsfall 60.000 Euro und ein verhüteter Todesfall 160.000 Euro. Das ist viel Geld, und es ist gut, dass wir das in Deutschland dank der GKV bezahlen können. Wenn die Wirksamkeit geringer ist als erwartet, gehen die Zahlen drastisch nach oben - aber auch das wäre kein Grund, gegen die Impfung zu sein. Der Grund ergibt sich aus dem Vergleich. Wenn ich 300 Millionen Euro habe - und zwar nicht für die Akutmedizin am offenen Herzen oder für ein neues Hüft- oder Kniegelenk -, sondern für eine Intervention, die vielleicht künftige Krankheiten verhindern soll, dann muss sich das mit anderen Leistungen der Primärintervention vergleichen lassen. Und mit diesen 300 Millionen Euro könnte man an anderer Stelle schlicht größeren Nutzen stiften.

Wäre das nicht ein Fall für die Kosten-Nutzen-Analyse des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesens (IQWiG) in Köln?
Das IQWiG sagt, es sei zu gesundheitsökonomisch vergleichender Evaluation methodisch erst in ein bis zwei Jahren gerüstet. Aber perspektivisch wäre es für solche Vergleiche zuständig. Wir müssen uns vor Augen führen, dass 300 Millionen jährlich zufällig auch der Betrag ist, den alle gesetzlichen Krankenversicherungen im Bereich der nicht-medizinischen Prävention für 70 Millionen Versicherte ausgeben, um insbesondere sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen zu vermindern. Die Impfung, so wie sie jetzt vertrieben wird, trägt dazu nichts bei, sondern stiftet nur Profite für die beiden beteiligten Pharmakonzerne.

... und sie stiftet trügerische Sicherheit für die Betroffenen?
Trügerische Sicherheit in doppelter Hinsicht: die individuell bedrohliche Seite ist, dass frau meint, nicht mehr zur Vorsorge gehen zu müssen. Wahr hingegen ist, dass eine Frau, die regelmäßig zu einer qualitätsgesicherten Früherkennung geht, von der Impfung allenfalls einen minimalen Zusatznutzen hat; eine Frau, die geimpft worden ist, muss hingegen lebenslang zur Vorsorge gehen. Die viel größere Illusion besteht aber darin, dass man glaubt, Impfung sei eine überlegene strategische Perspektive in der Auseinandersetzung mit den bei uns vorherrschenden Krebsarten.

Nächste Woche wird Harald zur Hausen für seine lebenslange Bemühung, die viralen Erreger von Krebs zu erforschen, mit dem Nobelpreis geehrt. Gibt es da einen Zusammenhang mit Ihrer Initiative?
Das zeitliche Zusammentreffen ist zufällig. Harald zur Hausen hat 30 Jahre lang zum Teil gegen den erbitterten Widerstand seines Fachs die Hypothese vertreten, dass für manche Krebsarten eine Virusinfektion eine notwendige Bedingung sei und er hat es im Falle von HPV und Cervix-Karzinom auch bewiesen. Das ist sicher eine Nobelpreis-würdige Leistung. Was daraus gemacht wird, ist allerdings nicht nobel. Zur Hausen, der naturgemäß eine positivere Sicht auf das Impfen hat als die Kritiker, ist zugleich einer der schärfsten Kritiker, was die Preissetzung des Impfstoffs durch die Pharmafirmen betrifft.

Das Gespräch führte Ulrike Baureithel

Rolf Rosenbrock leitet die Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und ist Professor für Gesundheitspolitik an der TU Berlin. Seit 1999 gehört er dem Sachverständigenrat im Gesundheitswesen an.



Weiterführende Links:

Die Erklärung der 13 Wissenschaftler ist abrufbar unter:

www.uni-bielefeld.de/gesundhw/ag3/downloads.html



Das Spiegel-Gespräch mit Friedrich Hoffmann unter: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,592987,00.html



Die im Freitag von Rolf Rosenbrock veröffentlichte Kritik an der Impfstrategie unter: http://www.freitag.de/2007/17/07171801.php



Über die aggressive Kampagne berichtete die Süddeutsche Zeitung: http://www.sueddeutsche.de/wissen/437/449167/text/

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