Eine Hommage an Geduld und Ehrfurcht

Sachlich richtig Prof. Erhard Schütz macht sein meeresbiologisches Seepferdchen und taucht in Amazons Konzernzentrale ab
Ausgabe 23/2021
Seepferdchen sind progressiv, hier tragen die Männer das Kind aus. Manchem Forscher erscheinen sie dennoch so, als habe Gott sie „im Suff“ erschaffen
Seepferdchen sind progressiv, hier tragen die Männer das Kind aus. Manchem Forscher erscheinen sie dennoch so, als habe Gott sie „im Suff“ erschaffen

Foto: Dan Kitwood/Getty Images

Zierlich tierlich. Ihrer fulminanten Kritik der Vögel lassen Jürgen und Thomas Roth nun Minima Ornithologica folgen. Kurze Texte über langfristige Vogelerkundungen. Zum Beispiel über das Glück bei der Kontemplation einer kontemplativen Amsel. Wie überhaupt die Amsel eine prominente Rolle spielt: Schimpfen, Füttern und Nestbau – und gleich dreimal deren Begräbnis. Von den vorzugsweise scheißenden Möwen und Tauben wissen sie artig zu berichten, wie kundig von selteneren oder häufigeren heimischen Flügelwesen. Hin und wieder auch Exoten. Das ist nachgeforscht und nachgedacht, vergnüglich und augenöffnend.

Mit elf habe ich meiner Mutter von einer Kinderkur an der Nordsee ein konserviertes Seepferdchen als Brosche mitgebracht. She was not amused. Seither habe ich ein schlechtes Gewissen gegenüber den Tierchen, von denen einer ihrer Erforscher gesagt hat, Gott müsse sie im Suff gezeugt haben. Dabei sind sie ziemlich singulär und für tonangebende Kreise vorbildlich, tragen doch die Männchen die Brut aus, in einer „echten Schwangerschaft“. Und sind nach dem Geburtsvorgang sofort wieder bereit zur neuen Befruchtung. Ansonsten sind sie recht gefräßig, aber träge. Was ihnen im Aquarium oft nicht bekommt, weil die Fische ihnen alles wegfuttern.

Hin und wieder etwas plauderös geht es bei Till Hein um Sortenvielfalt, Brumm- und Klickgeräusche, die Vorbildfunktion in der Robotik oder die den Tierchen unzuträgliche Verwendung als Aphrodisiakum. Hier kann man sein meeresbiologisches Seepferdchen machen.

Es beginnt mit Dachsen, die er im Nachnamen trägt. Sylvain Tesson begleitet den Tierfotografen Vincent Munier zu deren Beobachtung. Daraus erwächst der Plan, im tibetischen Hochland den Schneeleoparden zu finden, von dem es weltweit noch circa 5.000 gibt. In kurzen, atmosphärisch dichten Sequenzen beschreibt Tesson den Weg dorthin, in 5.000 Meter Höhe, bei 35 Grad Minus, in der Wildnis, „das, was noch da ist, wenn man es nicht mehr sieht“. Nicht als Zoologen sind sie unterwegs, sondern als Mystiker der Schönheit. Yaks, Wölfe, Wildesel, Gazellen und Blauschafe tauchen auf, ehe es zur ersten Begegnung mit dem Gesuchten kommt. Tessons Buch ist eine Hommage an die Geduld und die Ehrfurcht, an das Unsichtbarwerden beim Lauern. Es enthält ein einziges, kleines Foto. Scharf fokussiert ein Falke im Gefels. Erst die Erläuterung öffnet den Blick auf die verschwommene Augenpartie des Leoparden, der über den Rand blickt.

Wehrt man sich nicht gegen das öfters existenzialistisch mystifizierende Pathos der eingestreuten Sentenzen, liest man ein berührendes Meditationsbuch. „Warten war ein Gebet. Etwas kam. Und wenn nichts kam, hatten wir nicht hinzusehen gewusst.“

And now for something completely different. Dass Jeff Bezos sich öffentlich reuig zeigte und verkündete, dass Amazon der beste Arbeitgeber werden wolle, wiewohl ja angeblich schon 94 Prozent der Mitarbeiter beteuern, sie arbeiteten im Paradies, liegt wohl weniger an diesem Buch hier als am allenthalben aufkommenden Unmut der Belegschaft.

Ausgeliefert versteht sich jedenfalls als fundiert begründete Anklage der rapide wachsenden ökonomischen Ungleichheit insbesondere in den USA – an einem exemplarischen Fall. Eben dem von Amazon. In zahlreichen Porträts von Menschen, die auf unterschiedlichste Weise zu Opfern der nahezu unkontrollierten Konzernökonomie wurden, wird hier ein ebenso farbiges wie zugleich düsteres Mosaik geliefert. Das verdichtet sich um Seattle, dem Headquarters des Konzerns. Besonders hier, im mikrologischen Blick auf das ökonomische Diktat solcher Überkonzerne gegenüber den Kommunen, hat das Buch seine Stärke. Amazon liefert natürlich auch Ausgeliefert aus.

Info

Minima Ornithologica. Begegnungen mit der Vogelwelt Jürgen und Thomas Roth Blumenbar 2021, 303 S., 24 €

crazy horse. Die schillernde Welt der Seepferdchen Till Hein mare 2021, 240 S., 22 €

Der Schneeleopard Sylvain Tesson Nicola Denis (Übers.), Rowohlt 2021, 191 S., 20 €

Ausgeliefert. Amerika im Griff von Amazon Alec MacGillis Tobias Schnettler, Bert Schröder (Übers.), S. Fischer 2021, 448 S., 26 €

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