Eine Jahrhundertkrise kappt die Millenniumsziele

Gesundheit Wir dürfen es uns nicht leisten, mühsam erkämpfte Fortschritte bei der Versorgung der Menschen im globalen Süden aufs Spiel zu setzen. Eine Herausforderung für die WHO

Was die Finanzkrise den Gesundheitsdiensten aufbürdet, muss in allen Staaten Besorgnis auslösen, egal auf welcher Entwicklungsstufe sie sich befinden. Steigt die Arbeitslosigkeit weiter, werden soziale Sicherheitsnetze reißen, Sparguthaben und Pensionsfonds versiegen und weniger öffentliche Zuschüsse fließen – also müssen wir überall auch mit einer verminderten ärztlichen Versorgung und Hilfe rechnen.

Die Folgen sind ganz unmittelbar, wenn mehr Stress zu mehr psychischen Störungen führt, wenn Menschen die Flucht in Suchtstoffe wie Tabak, Alkohol und Drogen antreten, wenn der allgemeine Gesundheitszustand sich verschlimmert, weil Gesundheitshelfer die Pflegeleistungen schuldig bleiben, die Menschen nun einmal brauchen, wenn sie krank werden. Diese Szenarien sind nicht theoretischer Natur, sie beruhen auf Erfahrungen früherer Rezessionen, die zumeist weniger resolut, tiefgreifend und vor allem kürzer waren, als Experten dies für das augenblickliche Debakel prophezeien.

Finanzmärkte, Ökonomien und Geschäftswelten sind enger verbunden als jemals zuvor. Nationale Grenzen sind ihnen fremd. Was alles – vorrangig für Afrika und Asien – noch prekärer macht, das ist der Umstand, dass die Finanzkrise auf eine Nahrungsmittel- und Energiekrise folgt, die mehr als 100 Millionen Menschen zurück in die Armut geworfen hat. Als dies geschah, waren wir mitten im anspruchsvollsten Prozess, der je begonnen wurde, um die Wurzeln von Armut zu bekämpfen und Abgründe zu überbrücken, die es bei der Volksgesundheit von Region zu Region, von Kontinent zu Kontinent gibt.

Niemand sollte daran interessiert sein, diesen Prozess aufzuhalten. Während vorangegangener Rezessionen wurde Entwicklungshilfen leider immer dann gekürzt, wenn sie am nötigsten waren. Doch wir können es uns einfach nicht leisten, den mühsam und hart erkämpften Fortschritt bei der Gesundheit von Kindern und Frauen, im Kampf gegen AIDS, TBC und Malaria und im Aufbau von effizienten Gesundheitsdiensten fallen zu lassen. Der Finanzkrise darf es nicht gestattet werden, unsere Millenniumsziele zu kappen.

Frauen und Kinder trifft es als erste

In vielen Ländern mit geringen Einkommen sind mehr als 60 Prozent der Gesundheitsausgaben privater Natur – bar auf die Hand bezahlte Dienstleistungen. Im Moment wächst natürlich die Gefahr, dass die Menschen genau dort sparen und besonders auf Vorsorge verzichten, was allein deshalb besorgniserregend ist, weil die demografischen Verhältnisse sich gerade ändern und chronische Krankheiten global im Kommen sind. Wir wissen auch, dass stets Frauen und Kleinkinder als Erste von einer verschlechterten Nahrungsmittelversorgung betroffen sind. Zugleich haben die Trends im Welthandel des vergangenen Jahrzehnts viele Länder dazu verführt, die Selbstversorgung aufzugeben – Nahrungsmittelsicherheit wird dadurch zum Luxus.

Die WHO hielt kürzlich ein hochkarätiges internationales Treffen von Experten ab, um ihr Votum abzugeben: Basisgesundheitsversorgung bleibt aktueller denn je, der Zugang zu sauberem Trinkwasser ist notwendiger denn je, gesunde und ausreichende Nahrungsmittel sind unverzichtbarer denn je.

Die Finanzkrise fordert die WHO deshalb heraus, über sich selbst nachzudenken. Wir müssen in diesem Augenblick darauf bestehen, dass es eine effiziente Koordination geben muss, um ein Maximum an Synergien aus unseren Gesundheitsprogrammen zu ziehen. Die Krise ist insofern auch eine Aufforderung, die gesamte Entwicklungspolitik der Vereinten Nationen zu reformieren – doch sie ist keine Aufforderung zum Sparen. Es kann derzeit nur darauf ankommen, dass unsere Anstrengungen mit den Prioritäten der Entwicklungsländer harmonieren. Sie haben das schwerste Los in der Krise tragen, die eine Gefahr für die globale Gesundheit ist.

Margaret Chan ist Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

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