Eine Melange aus Vorgestern und Übermorgen

Medien Seit 30 Jahren wird die „Berliner Zeitung“ von Hand zu Hand gereicht. Wohin steuert das Blatt?
Ausgabe 19/2021
Viele würden ihre Beziehung zur Berliner Zeitung gerne weiterführen, wenn da nicht die Seitensprünge wären
Viele würden ihre Beziehung zur Berliner Zeitung gerne weiterführen, wenn da nicht die Seitensprünge wären

Foto: Jochen Track/imago

„Es war die schönste Zeit“ – so lautet die Überschrift der Abschiedskolumne von Maxim Leo und Jochen-Martin Gutsch. 19 Jahre lang haben die beiden Ostberliner Journalisten für die Berliner Zeitung kolumniert. Immer samstags meldete sich einer der beiden, um Persönliches mit Gesellschaftlichem zu verbinden. Es ging um Politik und Kinder, um Heimweh und fragile Männlichkeit. Vor allem aber ging es um Berlin. Mögen die Bewohner:innen dieser Stadt immer mal wieder mit einer gewissen Ruppigkeit auffallen, mit Chaospolitik und seltsamem Humor – Berlin ist und bleibt ein globaler Sehnsuchtsort. Und ihre Zeitung ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges: die Berliner Zeitung.

Dass Leo und Gutsch nach fast zwei Jahrzehnten ihren Hut nehmen, erzählt durchaus etwas über den aktuellen Zustand und die Rezeption der „Berliner“, wie sie bis zum Mauerfall mangels Konkurrenz hieß. Leo und Gutsch deuten in ihrem freundlich-melancholischen letzten Text an, warum sie Schluss machen. „Vielleicht ist es in der Beziehung mit einer Zeitung wie in einer langen Ehe: Manchmal wird man sich fremd. Und dann muss man gehen.“

Eine Ehe also. Tatsächlich wurde und wird die Berliner Zeitung von vielen Menschen beständig geliebt. Nicht immer feurig, aber doch in einem gewissen Einverständnis, vor allem für ihre Wochenendausgabe. Rund 80.000 Exemplare beträgt derzeit die tägliche Auflage, knapp die Hälfte davon sind Abonnements. Viele Leser:innen würden ihre Beziehung zur Berliner Zeitung wohl gerne weiterführen, wenn da nicht die vielen Seitensprünge wären.

Seit 30 Jahren wird das Blatt von Hand zu Hand gereicht. Erst kam Gruner + Jahr, dann die Holtzbrinck-Gruppe, danach die Deutsche Zeitungs-Holding und DuMont. Alle schraubten an den Strukturen herum, an Vertrieb und Marketing, am Online-Auftritt, vor allem aber an den Kolleg:innen. In der Branche machten gruselige Geschichten die Runde. Gestandene, von der Leserschaft gefeierte Journalist:innen mussten sich um ihre Stellen neu bewerben. In den Redaktionsräumen am Alexanderplatz gab es Revierkämpfe zwischen Ost und West, Alt und Jung. Viele bewarben sich irgendwann weg.

Als schließlich im Jahr 2019 Silke und Holger Friedrich auftauchten, keimte so etwas wie Hoffnung auf einen publizistischen Honeymoon. Da waren zwei selbstbewusste Ostdeutsche, die etwas von der Geschichte des Blattes verstanden, womöglich gar von dessen Leserschaft. Das Paar legte einige Millionen auf den Tisch und kaufte gleich noch die dazugehörige Druckerei. Die Rede war von „zivilgesellschaftlichem Engagement in bewegten Zeiten“.

Wie bewegt die Zeiten werden würden, hatten wohl nicht mal die beiden auf dem Zettel. Springers Welt begrüßte das Paar im noblen Verlegerkreis mit einer Recherche zu Holger Friedrichs Stasi-Vergangenheit – ein Untersuchungsbericht ergab später, dass alles deutlich komplexer ist. Als die Friedrichs mit einem kruden Manifest nach vorn gingen, das die EU zweifelhaft, aber Putin und Egon Krenz super fand, sank Wohlmeinenden der Mut. Und seit diesem Frühjahr erscheint die Wochenendausgabe mit raumgreifendem Layout, Lifestyle-Geschichten und von Linkspartei-Vordenkern vollgeschriebenen Bleiwüsten. Eine schwer zu verkraftende Melange aus Vorgestern und Übermorgen, unterbrochen von wirklich guten Texten. Aber für die Liebe, für eine Ehe gar, reicht das nicht mehr. Es ist so, wie Leo und Gutsch schreiben: Es war die schönste Zeit.

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