Eine Nation am Scheideweg

Frankreich Nach dem Anschlag von Nizza will die Regierung weiter aufrüsten. Dabei wären sozialer Friede und Integration der Ausgegrenzten das klügste Programm
Ausgabe 29/2016
Nizza, Promenade des Anglais, 15. Juli 2016
Nizza, Promenade des Anglais, 15. Juli 2016

Foto: Xinhua/Imago

Und wieder traf es Frankreich. Die Anschläge in Paris vom November 2015 sind kein Jahr her – nun schlug der Terror ausgerechnet am französischen Nationalfeiertag zu. Für Erleichterung, dass die Fußball-EM friedlich verlaufen war, blieb kaum Zeit, als die Schreckensmeldung kam: Mohamed Lahouaiej-Bouhlel – geboren am 3. Januar 1985, tunesischer Staatsbürger, seit 2005 in Frankreich lebend, Lieferwagenfahrer in einem nördlichen Stadtteil von Nizza, verheiratet, aber getrennt lebend, Familienvater, drei Kinder – raste mit einem Lastwagen in die Flaniermeile auf der Strandpromenade in Nizza und tötete 84 Mitbürger, darunter Kinder und Jugendliche.

Warum? Und warum sofort Terrorverdacht – statt Amoklauf? Bis heute ist die Faktenlage ungesichert, ein Bezug zum IS nicht erwiesen. Als Tatmotiv naheliegender sind psychische Labilität, Depressionen, Alkohol oder gar Drogen eines zumindest bis kurz vor der Tat nicht religiösen Menschen. Also eher ein Fall für die „Klinik“ à la Alain Ehrenberg, dem großen französischen Soziologen, der mit seinem Buch Das erschöpfte Selbst 2008 einen Überraschungserfolg verbuchen konnte. Mit einer schonungslosen Analyse des überforderten Subjekts in der spätkapitalistischen Moderne – vor allen von jenem, die weder Zukunft noch Hoffnung, Geld oder Anerkennung zu erwarten haben, sondern nur permanente Demütigung am Rande der Gesellschaft.

Die Tat des Mörders von Nizza ist abscheulich, unentschuldbar und durch nichts zu rechtfertigen. Ob er Helfer hatte oder doch ein Einzeltäter war, ist nur entscheidend, wenn man den Begriff des Terrors dem des Amoklaufs vorziehen möchte – was für das eigentliche Problem aber irrelevant ist. Die Fakten rechtfertigen es nicht, von islamistischem Terror zu sprechen. Aber Frankreich hält in der Berichterstattung hartnäckig daran fest. Es will sich offensichtlich „angegriffen“ fühlen, und ein psychisch kranker Einzeltäter kann das nicht bieten.

Tief gespalten

In Paris auf der Place de la République, einer der öffentlichen Gedenkstätten nach dem Angriff auf die Diskothek Bataclan im November, wurden die Blumen und Kerzen erneuert. Man traf sich zur gemeinsamen Trauer. Braucht Frankreich den Terror, um sich als Nation zu spüren? Oder um nicht hinschauen zu müssen, was aus der Grande Nation geworden ist? Ein gespaltenes Land nämlich, gespalten in Arm und Reich, Stadt und Land, Franzosen und Muslime, Front-National-Wähler und solche, die den Front National fürchten. Dazwischen verunsicherte Mittelschichten, eine desillusionierte Jugend und eine ebenso zerstrittene wie entmutigte Linke, die mit Nuit debout eine kraftlose Revolte wagte, die mittlerweile im Sande verlaufen ist. Weder Nation noch Republik: Es gibt kaum etwas, das die Franzosen heute eint.

Petit erscheint die einst große Nation heute. Wahrscheinlich erschallt gerade deshalb der Ruf nach Sicherheit umso lauter. Wenn den Attentätern daran liegen sollte, die liberalen, pluralistischen Gesellschaften nicht nur zu erschüttern und zu verunsichern, sondern in letzter Absicht in Fragmente zu spalten, sind sie bedauerlicherweise auf gutem Wege. Politiker wie Marine le Pen oder Geert Wilders in den Niederlanden, Parteien wie die deutsche AfD oder die österreichische FPÖ profitieren jedes Mal von dem Verdacht, ein Anschlag könnte religiös motiviert gewesen sein.

Und auch jedes Mal, wenn ein im jeweiligen Land geborener Attentäter seine Landsleute erschießt oder in die Luft sprengt, folgt seitens der verantwortlichen Regierungen die gleiche Reaktion: Man spricht von Krieg, verspricht den kompromisslosen Kampf und denkt zur Sicherung von Sicherheit sofort an Aufrüstung. Immer wird aber vergessen, dass Sicherheit zwar angenehm, aber kein Wert an sich ist; auch im Gefängnis kann man sehr sicher sein.

Gewiss, Polizeiarbeit und Sondereinsatzkommandos mögen unverzichtbare Instrumente eines wehrhaften Staats sein, vor allem aber sind sie eine reaktive Variante. Bei allem Verständnis für Schmerz, Ohnmacht und Verzweiflung nach dem brutalen Angriff von Nizza: Die Anrufung bellizistischer Stärke ist ein Zeichen von Schwäche, Überwachungskameras verhindern das nächste Attentat ebenso wenig wie 10.000 neue Reservisten. Die Kriegsrhetorik ist nicht mehr als patriotischer Kitt.

Wer zustimmt, dass es eine Tat wie in Nizza nie wieder geben sollte, der muss eher die Defekte und Versäumnisse der französischen Einwanderungspolitik und der fehlgeleiteten Inklusion unter die Lupe nehmen, die die Radikalisierung gefördert haben. Ob jahrelange Kopftuchdebatten oder Burka-Verbote: Nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass ein Pass-Franzose heute eben noch lange kein ebenbürtiger Franzose ist. Die république hat ihre beurs – junge Franzosen mit Migrationshintergrund aus muslimischen Ländern – jahrzehntelang alleingelassen.

Die Krise der Repräsentation, in der die liberalen Demokratien Europas stecken, führt dazu, dass sich bestimmte Schichten von Bürgern mit Migrationshintergrund nicht bürgerlich anerkannt und politisch vertreten fühlen. 2005 mussten sie sich vom damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy bei Ausschreitungen in Pariser Vororten sogar als „Gesindel“ beschimpfen lassen. Und wenige wissen wohl, dass – mitten in Europa – in den Vierteln der so Ausgegrenzten ab 19 Uhr Sperrstunde herrscht.

Es geht also um Entwürdigung. Aus ihr wachsen gewaltbereite Menschen, die sich als Verlierer begreifen und sich dann „kurzfristig“ religiös radikalisieren. Einheimische Einzeltäter, die sich an der Gesellschaft rächen und ihre Rache heilsgeschichtlich bemänteln. Jeder Amokläufer kann sich ja für seinen „erweiterten Suizid“ neuerdings auf Allah berufen, um seine Tat durch höhere Weihe zu legitimieren. Wer sich ausgeschlossen fühlt, entwickelt kein Zugehörigkeitsgefühl, keine Loyalität zu Staat und sozialer Gemeinschaft. Und wer trotz Familie und Job das Gefühl aufbaut, nicht gewollt zu sein, kehrt sich irgendwann gegen jene, die ihm trotz allem alle verfassungsmäßigen Grundrechte gewähren. Gelingende Integration bedeutet Pflicht zur Teilnahme, aber auch ein Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft. Auch bei der Tat von Nizza könnte man – kurzfristige islamische Radikalisierung hin oder her – nach tiefer liegenden Gründen fragen. Man könnte etwa fragen, warum nicht längst Legionen gut entlohnter Sozialarbeiter in den Banlieues eingesetzt werden.

Eine lohnende Investition

Statt Bellizismus wäre Prophylaxe das klügere Programm. Die nachhaltigste Sicherheitsgarantie für eine Gesellschaft sind sozialer Frieden und soziale Anerkennung. Das ist keineswegs sozialromantisch naiv, sondern durch Studien belegt. Demnach profitieren von frühkindlichen Betreuungsangeboten vor allem Kinder mit Migrationshintergrund – und je früher eine gezielte Förderung ansetzt, desto prägender wird sie. Bildung schafft die Voraussetzungen für weitere Bildung, frühe Motivation ist der effektivste Motor für lebenslange Motivierbarkeit.

Man weiß seit langem, dass neben gut ausgebildeten Lehrern die individuelle Förderung jedes einzelnen Schülers nötig ist, um gute Bildungsergebnisse zu erzielen. Langzeitstudien aus den USA zeigen, dass die öffentliche Hand für jeden Dollar, den sie in Kinder aus sozial benachteiligten Familien investiert, später das bis zu Siebenfache zurückerhält: gezielt geförderte Kinder haben bessere Abschlüsse, leben nicht von Sozialhilfe, werden seltener kriminell. „Um verlässlich zu sein“, schrieb der französische Philosoph Emmanuel Lévinas, „muss man das Gefühl haben, gebraucht zu werden; um das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden, muss der andere auf uns angewiesen sein.“ Wie in einer offenen Gesellschaft, so ließe sich anfügen, jeder auf den jeweils anderen angewiesen ist.

Dass eine Generation Abgehängter und Ausgeschlossener dafür verloren sein könnte, ist tragisch genug. Die Politik sozialer Prävention durch Frühkindförderung wäre ein gesamteuropäisches linkes Projekt – wenn sich die politische Linke nicht, wie in Frankreich, durch Zersplitterung selbst lahmlegen und den Regierungen die Militarisierung des Staats überlassen würde. Die Rechnung ist simpel: Mit Sozialarbeitern kann man den Exportüberschuss nicht steigern, und die europäische Sparpolitik hat die öffentlichen Haushalte totgeschrumpft. Für das öffentliche Wohl war in der EU leider kein Platz.

Am Rande bemerkt: Sollte der jetzt wieder verlängerte Ausnahmezustand dann immer noch gelten und Marine Le Pen nächstes Jahr wider Erwarten die Präsidentschaftswahlen gewinnen, bräuchte sie nicht einmal ein „Ermächtigungsgesetz“. Sie könnte schon jetzt jeden verhaften, dessen Nase ihr nicht passt. Ob das in Zukunft Terroranschläge verhindert, darf man bezweifeln. Eher treibt es Frankreich in einen latenten Bürgerkrieg, wie manche bereits heute unken. Nein, keine guten Aussichten.

Ulrike Guérot ist Direktorin des European Democracy Lab an der European School of Governance in Berlin.

Christian Schüle lebt als freier Schriftsteller und Essayist in Hamburg

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