Meine einzige persönliche Begegnung mit Helmut Kohl fand 1976 statt. Ich war 14 und er 46, und ich war eigens ihm zuliebe mit dem Zug von Meppen nach Lingen gereist, wo er eine Rede im letztlich gegen Helmut Schmidt verlorenen Wahlkampf hielt. Ich wollte mir ein Autogramm holen, und das bekam ich. Kohl manövrierte sich, nachdem er ausgeredet hatte, autogrammeschreibend und -verteilend durch die anbrandenden Massen. Er war schon damals ein Koloss.
Mein Ausflug hatte rein sportliche Gründe. Ich besaß auch Autogramme von Otto Waalkes, Uwe Seeler, Herbert Wehner, Gerd Müller, Walter Scheel, Eberhard Gienger, Willy Brandt und Bruce Low. Für die CDU hatte ich nichts übrig – im Gegenteil. Nach allem, was ich wusste, wurde diese Partei seit ihrer Gründung von reaktionären Finsterlingen geführt, die einen autoritären Ständestaat konservieren oder restaurieren wollten. Die CDU stand für die Wiederbewaffnung, den Kalten Krieg, die Beförderung alter Nazis, den Kuppeleiparagrafen und das ganze brechreizerregende Spießbürgertum, das sich am Rande der studentischen Demonstrationszüge zusammengeschart und der Forderung Ausdruck verliehen hatte, alle Gammler ins KZ zu stecken.
Ach, der arme Hölderlin
Kohl selbst beging als Kanzlerkandidat im Sommer 1976 den schwerwiegenden Fehler, sich mit dem Schriftsteller Walter Kempowski auf ein Gespräch über Literatur einzulassen. Es erschien unter dem Titel „Was lesen Sie, Herr Kohl?“ im Zeit-Magazin. Er sei, so sagte Kohl, „in Hölderlin gut“ gewesen, und er habe ihn „als alles andere totschlagend“ wahrgenommen. Damit erübrigte sich jeder weitere Gedanke über die geistige Reputation des Kandidaten der Unionsparteien.
Seine Wahlkampfberater hatten ihm die klotzige Hornbrille aus den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidententagen weggenommen und sie durch ein moderneres Modell ersetzt. Aber wo und wie auch immer Kohl auftrat und das Wort ergriff, verbreitete sich – spürbar selbst für einen seinerseits tapsigen und sozial inkompetenten Vierzehnjährigen aus einer provinziellen Kleinbürgerfamilie – ein quälendes Gefühl der Peinlichkeit: Dieser Mann redete dummes Zeug. Und er war sowohl seinen schärfsten innerparteilichen Widersachern als auch den sozialdemokratischen Spitzenpolitikern intellektuell hoffnungslos unterlegen. Der CSU-Chef Franz-Josef Strauß persönlich hatte seinem Intimfeind Kohl in einer dem Spiegel zugespielten und von der Redaktion genüsslich enthüllten Geheimrede die Eignung zur Kanzlerschaft abgesprochen: „Er ist total unfähig, ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles dafür.“
Und dennoch butterte Kohl alle, die sich ihm entgegenstellten, erbarmungslos unter. Sechs Jahre nach dem vergeigten Wahlkampf von 1976 hatte er es dann doch geschafft. Von den Intrigen, die er gesponnen haben muss, um sich in den langen Jahren der Opposition eine neue Hausmacht zu verschaffen und in Absprache mit spendablen Großindustriellen und unter publizistischem Flankenschutz des Springer-Konzerns die FDP aus dem sozialliberalen Regierungsbündnis herauszulösen, kann man sich als Nichteingeweihter nur eine verschwommene Vorstellung machen. Von Satirikern wurde Kohl als „Birne“ verspottet, und es erschienen mehrere Anthologien seiner närrischsten Aussprüche. Aber weder von der Deutschen Bank noch vom Wahlvolk kam Widerspruch, als er 1982 in Bonn das Regierungsgeschäft übernahm.
„Man könnte sagen, dass Geschmack und Nerven an Hubert Kah und der Neuen Deutschen Welle schon genug hätten und dieser da da da so unnötig war wie ein Ohrwurm. Man könnte fragen, ob die Bundesrepublik am Beginn der letzten Vorkriegskrise der kapitalistischen Ordnung wirklich dem geistigen und moralischen Führungsanspruch der Frau Strubbelich unterworfen werden musste“, schrieb Hermann L. Gremliza in konkret. „Man könnte, aber man sollte nicht. Helmut Kohl ist kein Objekt der Satire. Er ist Satire.“
War er das? Er berief ein wahres Gruselkabinett, mit dem illiberalen CSU-Rechtsaußen Friedrich Zimmermann als Innenminister. Und er umgab sich mit mediokren, aus Mainz ins Bonner Staatssekretariat mitgeschleppten und allgemein belachten Jugendfreunden wie Waldemar Schreckenberger, dessen Spitzname „Schrecki“ schon alles zu sagen schien. Als Pressesprecher wurde der Springer-Journalist Peter Boenisch bestallt. Mit Kohl und seiner Gefolgschaft triumphierte ein Funktionärstypus, der bis dahin vornehmlich in Sportvereinen beheimatet gewesen war und eine seiner furchtbarsten Gestalten in den fleischigen Zügen des DFB-Chefs Hermann Neuberger angenommen hatte – der wohlgenährte Provinzfürst, der in Bierkellern und Hinterzimmern die Strippen zieht, wo er mit Argwohn und Missbilligung auf jeden Einspruch reagiert und sich im Übrigen darauf verlässt, dass alle Mängel seines öffentlichen Erscheinungsbildes durch telefonisch erteilte Ordnungsrufe ausgeglichen werden können.
Wissen um die Machtentfaltung
1985, als der Briefwechsel zwischen den Schriftstellern Arno Schmidt und Alfred Andersch erschien, kam es an den Tag, was Kohl im Namen der CDU dem alten Schmidt zu dessen 65. Geburtstag angetan hatte: „Andere pikante Gaben waren etwa ein telegrafisches Lob von Helmut Kohl (dem CDU-Vorsitzenden; just think of that!).“ Kohl wusste offenbar nicht, wem und weshalb er da gratuliert hatte. In Schmidts Fall hatte es einen eingefleischten Atheisten und erbitterten Feind aller Christdemokraten getroffen. An ein ähnliches Ereignis erinnerte sich der Zeichner Horst Janssen: „Zu meinem 50. Geburtstag kriegte ich von Dr. Kohl – damals war er noch nicht Kanzler – ein Glückwunschtelegramm. Es war die wörtliche Abschrift aus Meyers Konversations-Lexikon, 20 Jahre alt. Darin ziehe ich der menschlichen Gesellschaft das Hemd aus und die Haut ab und lege die Nerven bloß. So steht das da im Lexikon. Und nun Kohls Telegramm. Dem Sinn nach zitiere ich: ‚Lieber Herr Janssen oder sehr geehrter Herr Janssen, ich gratuliere Ihnen, der Sie der menschlichen Gesellschaft das Hemd und die Haut abziehen und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg, Ihr Helmut Kohl.’“
Er hatte wahrhaftig von nichts anderem als von der eigenen Machtentfaltung eine Ahnung. Die „geistig-moralische Wende“, die er versprach, kulminierte in der energisch durchgesetzten Legalisierung des Privatfernsehens, das uns heute mit gekeuchter Telefonsexreklame und den unsäglich ordinären Rüpeleien eines Dieter Bohlen unterhält. Gesittung, Anstand, Habitus, Moral – all das, worauf das verschollene Bildungsbürgertum einst Wert gelegen haben mochte, wurde von Kohl und den Seinen verramscht, im Tausch gegen Parteispenden, die auf diversen und mitunter, wie man heute weiß, auch krümmsten Wegen zum Schatzmeister der CDU gelangten.
Wenn ein Politiker wie Kohl von links gekommen wäre, hätte die konservative Elite allen Grund dazu gehabt, die plumpen Umgangsformen, das tumbe Auftreten, das hilflose Bramarbasieren und die Stillosigkeit zu rügen, die mit Kohl zum Normalfall wurden. Doch das Unbehagen an dem schier endlos erscheinenden Siegeszug des tölpelhaften, bestenfalls viertelgebildeten und nichtsdestoweniger höchst selbstzufriedenen Kleinbürgertums in Gestalt des Kanzlers Kohl wurde nur links von der Mitte laut. „Wenn du den Mann im TV siehst oder auch nur im Radio hörst, wird er sofort vollkommen unerträglich“, schrieb der Essayist Michael Rutschky 1987, und man fragte sich, als linksaußenstehender Zeitungsleser, tagtäglich und alljährlich aufs neue, was sich wohl die ausländischen Staatsmänner dachten, die sich von Berufs wegen mit Kohl unterreden mussten, obwohl doch für ihn schon das Deutsche eine Fremdsprache war und alle Sachberater ihre liebe Mühe damit gehabt haben dürften, dem schwerfälligen Kanzler die passenden Stichworte einzuflüstern.
Dann fiel die Mauer, und Kohl stieg zum Kanzler der Einheit auf. Ich war in Berlin vor dem Reichstag als Reporter der Satirezeitschrift Kowalski zugegen, an jenem denkwürdigen 3. Oktober 1990: Aus der Ferne war Kohl nicht genau zu erkennen, doch man konnte sich ja denken, wie er dreinschaute und was in ihm vorging, als die Nationalhymne ertönte. Ich missgönnte ihm dieses Erfolgserlebnis von Herzen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte die DDR-Führung besser daran getan, die ausreisewilligen Bürger in den Westen zu entlassen und das Land als Auffanglager für politisch Verfolgte aus aller Welt zu öffnen. Aber auf mich hörte natürlich keiner.
Anstelle der „blühenden Landschaften“, die Kohl den DDR-Bürgern versprochen hatte, wuchs sich im wiedervereinigten Land etwas sehr Mittelmäßiges zurecht. Die Enttäuschung über den ökonomischen Fehlschlag schlug sich auch in Kohls Gesichtszügen nieder: Im Fortgang der Jahre schaute er immer sauertöpfischer drein – ähnlich übrigens wie Günter Grass, sein sozialdemokratischer Gegenspieler, der sich ja gleichfalls von aller Welt verkannt fühlt und das Eingeschnapptsein ebenso störrisch kultiviert wie der alte Kohl. Es wäre schwer zu entscheiden, welcher der beiden Rivalen die beleidigte Leberwurst besser verkörpert. Vielleicht werden sie eines Tages als siamesische Zwillinge wiedergeboren; das geschähe ihnen recht.
Ach, der arme Altkanzler
Doch allen Widrigkeiten, Skandalen, parteiinternen Putschversuchen und oppositionellen Angriffen zum Trotz hielt Kohl sich zäh im Amt – zur Verzweiflung seiner enragiertesten Gegner, die in der Spiegel-Chefredaktion saßen und in drei Dekaden in zahlreichen Titelgeschichten das unmittelbar bevorstehende Ende seiner Karriere angekündigt hatten: „Kohl kaputt“ (3/1979), „Ist Kohl noch zu retten?“ (24/1985), „Der Minuskanzler“ (11/1986), „Was nun, Herr Kohl?“ (6/1987), „Nach dem Wahl-Schock von Berlin – Kopflose Union“ (6/1989), „Aufruhr in der Union – Kohl soll weg – aber wie?“ (12/1989), „Nach dem Wahlsieg – ratlos in die Zukunft“ (49/1990), „Wie lange noch?“ (19/1992), „Kohls Macht verfällt – Das Ende einer Ära“ (46/1993), „FDP rutscht ab: Kohls Mehrheit bröckelt – Doch Machtwechsel?“ (40/1994).
„Kohls Körper ist noch immer der Körper der Bundesrepublik“, stellte Karl Heinz Bohrer im März 1998 im Merkur fest. „Statt jenes früheren bideren Lächelns, das seinem psychischen Ausdruck nach als ein Grinsen aufgefasst werden muss, ein Grinsen zwischen Unsicherheit und Schadenfreude, ist nun Unbeweglichkeit der vorherrschende Ausdruck. Wenn man nicht die Riesensilhouette der Mutter erkennt, die in der Küche unentwegt für die Kinder vom großen Laibe Brotstücke abschneidet, immer dasselbe Brot, Tag für Tag, seit Jahren.“
Als es damit endlich vorbei war, setzte ein beispielloser Prozess der öffentlichen Selbstzerstörung ein. Nach seiner Abwahl 1998 erlebte man einen Altkanzler, der sich bei seiner Weigerung, etwas zur Aufklärung der monumentalen Parteispendenaffäre beizutragen, auf ein Ehrenwort berief, das er Kriminellen gegeben hatte. Und man durfte den Höhepunkt seiner lebenslänglichen Kooperation mit der Bild-Zeitung darin erblicken, dass er bei seiner zweiten Eheschließung den Bild-Chef Kai Diekmann als Trauzeugen aufbot. Tiefer kann man nicht sinken.
Gerhard Henschel ist Autor zahlreicher Romane und Sachbücher. In den Kohl-Jahren schrieb er unter anderem für Titanic und konkret
Kommentare 16
Damit wäre fast alles zu Kohl gesagt! Und man muss sich nicht weiter über ihn unterhalten - so wichtig wird er im Rückblick nicht erscheinen.
Wir haben die Birne vergessen, da inzwischen noch viel grusligere Früchte in der Schale schimmelig von den Fruchfliegen umschwärmt die Luft im Land verpesten.
Wir in Bayern haben die Berge, da kann man - ähnlich wie im Harz - raufklettern und lachend auf die Bande runterschaun.
Ich liebe mein Bayernland und verachte seine CSU Kleptokratie - die das Land ohnehin vernichtet - sowohl landschaftlich, als auch sozial.
Im Rest von Deutschland gehts leider nicht minder gruselig zu.
Eine Qual löst die nächste ab - Kohl war massig, Joschka war als Vize mal schlaksig mal massig - sogar körperlich ein lebendes Kippbild - Schröder ein Nasenaffe mit breiten Schultern - Merkel das passende Weibchen - Bananenrepublik Germania.
Wir hopsen zum Glück relativ unbehelligt durch unsere Lebenszeit und müssen eben kostatieren - es sind unsere Artgenossen - gleiches Rudel - gleiches Beuteschema - einzig die Alphaaffen dürfen vor uns ans Futter.
Nach 1945 sah es so aus, als würde sich . neben all den Nazis, Mtläufern und Schwindlern - in Politik und Medien auch ein bisschen ein Anspruch an Charakter und Wertorientierung einbürgern. Das führte zwar häufig zu oberlehrerhaften Diskursen zum Zwecke demokratischer (Re)Sozialisation, aber hin und wieder wehte auch ein Hauch von "Edlem", von Würde durch die Luft, der Hoffnung auf Besseres machte.
Manche verbanden das mit Brandt.
Genau das beendete/ zerstörte dann Kohl, bevor mehr wachsen konnte und öffnete weit die Schleusen für Mittelmäßigkeit, Streber- und Duckmäusertum, Vetternwirtschaft, Korrumpierbarkeit und Selbstbediener. Das Bild des Vereinsstammtisches trifft es gut. Und im Grunde ist die Wahl von Gauck zum Bundespräsidenten der erste Moment seit Kohl, wo der Bürger zumindest hoffen durfte, dass es auch anderes gibt, als das, was mit dem System Kohl über ihn herein gebrochen war.
Ist dann irgendwie auch passend, war es doch die - nicht weniger spießerhafte - DDR, mit deren freundlicher Unterstützung Brandt zu Fall kam.
Die Menschen in Deutschland waren nach 16 Jahren Kohl verzweifelt genug, Gerhard Schröder zum Kanzler zu machen. Mehr muss man nicht wissen.
"Er/Sie ist total unfähig, ihm/ihr fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen. Ihm/Ihr fehlt alles dafür."
Helmut heißt jetzt Angela.
Helmut Kohls Kanzlerschaft wird aus meiner Sicht als die Kanzlerschaft der ganz großen Irrtümer und Naivitäten eingehen. Ich gehe heute davon aus, dass Kohl tatsächlich glaubte, der EURO sei eine gute Sache und würde sich, so wie er konstruiert wurde, bewähren. Ich gehe auch davon aus, dass Kohl tatsächlich glaubte, aus den Neuen Ländern würden sich binnen kürzester Zeit blühende Landschaften entwickeln. Man muss immer berücksichtigen, dass es in Westdeutschland unmittelbar nach dem II. Weltkrieg das sogenannte "Wirtschaftswunder" gab, das anschließend romantisiert wurde.
Was man Kohl jedoch nicht vorwerfen kann, ist eine problematische Haltung zum Grundgesetz und zu verfassungswidrigen Gesetzen. Der Dammbruch hier trat erst ein, als er abgewählt war und kummulierte zum ersten Mal in der Großen Koalition unter Merkel/Steinmeier. Kohls Kanzlerschaft stand für piefigen Stillstand und es wäre für unser Land, für die UNION und auch für Kohl selbst besser gewesen, die UNION hätte ihn schon 1994 aufs politische Altenteil geschickt. Dem politischen Glückspilz Helmut Kohl, dem die deutsche Einheit in den Schoß fiel wäre so das Abtakeln nach der katastrophalen Niederlage 1998 erspart geblieben. Und unserem Land die Legislaturperiode des Stillstands und der Blockade in der Zeit zwischen 1994 und 1998.
"Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte die DDR-Führung besser daran getan, die ausreisewilligen Bürger in den Westen zu entlassen und das Land als Auffanglager für politisch Verfolgte aus aller Welt zu öffnen. Aber auf mich hörte natürlich keiner."
"Kanzler der Einheit" ist er nicht. Auch allen anderen, ob von SPD usw. Brandt, Schmidt ist der Kampf gegen Sozialismus oberste Maxime, vereint mit der reaktionärsten Ideologie des Nationalismus. "Es wächst zusammen, was zusammen gehört" (warum eigentlich?) - widerlich. In alter Tradition und Symbolik! muss Berlin Hauptstadt werden (unnötig, teuer, umständlich), alle inklusive SPD weinten und plärrten national-besoffen mit , usw. usf
Kohl ist der historisch bedeutendste Kanzler, denn er hat es zustande gebracht kleinbürgerlichen Mief und intellektuelle Borniertheit als gesellschaftliche Konzession zu etablieren, die einen Fischer, Schröder und eine Merkel möglich gemacht haben.
Die bisher absolute Hochphase des kleinbürgerlichen Miefs verorte ich in der Kurzzeit-Präsidentschaft eines gewissen Christian Wulff.
@ Gebe
@ Sünnerklaas
Ein Vorschlag zur Güte. Wulff war nicht Hochphase, sondern Höhepunkt - und hoffentlich auch Endpunkt - des Vorherrschens kleinbürgerlichen Miefs in der deutschen Politik. Und hoffentlich der letzte böse Patzer von Merkel.
Die kleinbürgerliche Wende war kein deutsches Phänomen, sondern eines des kapitalistischen Westens. Reagan und Thatcher schafften den Durchbruch, Deutschland zog nach. Konfroniert mit einer nachwachsenden Generation, die die post-faschistischen Sonntagsreden wörtlich genommen hatte und, als sie das Lügenpack dahinter erkannte, rebellierte, sahen Kapital und Kleinbürgertum, die als tragende Masse unentbehrlich für jeden Faschismus sind und sich deshalb nach Adolf hatte wegducken müssen, die Zeit gekommen, die historischen Lehren zu vergessen/ verdrängen/ überschreiben und sich wieder nach vorne zu drängen.
Mit Reagan, Thatcher und Kohl plus Lambsdorff gelangten also Kleinbürgertum und Neoliberalismus wieder gemeinsam an die Macht und die absehbaren Folgen dauern an....Wobei Kohls CDU-Sozialisation verhinderte, dasss wir in D Opfer der anglo-amerikanischen Radikalität wurde. Da Hat J. Augstein mit seinem Einwurf gegen mich Recht [ https://www.freitag.de/autoren/seriousguy47/die-kohl-trrrraaagoedie-aussitzen-lohnt-sich ]
Ich habe leider meine Zweifel, dass die Kurzzeit-Präsidentschaft Wulffs den auf Dauer den Höhepunkt spießiger Miefigkeit und kleinbürgerlicher Versumpfung darstellt - so sehr ich mir dies wünschen täte. Wir sollten immer eines wissen: Schlimmer geht immer.
Auch wenn manche es nicht mehr hören können oder wollen: die Wulff-Präsidentschaft ist von außerordentlicher Wichtigkeit - genauso, wie es die Ministerpräsidentschaft von Stefan Mappus ist. Zentraler Punkt ist dabei die Frage, wie diese beiden, für ihre Ämter offenkundig vollkommen ungeeigneten Personen in diese gelangen konnten. Heute will in der UNION und auch in der FDP niemand mehr auf diese beiden Leute angesprochen werden, am liebsten würde man sich hinstellen und erklären, man habe beide niemals gekannt.
Bei ihrer Inthronisation erschienen Mappus und Wulff allerdings als durchaus nützlich: im Fall Wulff gingen Angela Merkel und der damalige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle davon aus, einen strammen Parteisoldaten ins höchste deutsche Staatsamt zu bringen, der tut und macht, was aus dem Kanzleramt angeordnet wurde. Vor allem ging es darum, einen Bundespräsidenten zu haben, der ohne Murren verfassungswidrige Gesetze unterschreibt - wie den "Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Kernenergie". Und ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt: von Wulff waren keine unangenehmen Reden zu erwarten - und in seiner Sprachlosigkeit enttäuschte er nun absolut nicht.
Im Fall Mappus ging es auch um sehr viel: das Vorantreiben "bürgerlicher Herzensangelegenheiten": Law and Order, Wirtschaftssnähe, Sicherung der bestehenden Pfründe. Und dann waren da noch Projekte, wie Stuttgart 21, die es mit aller Macht durchzusetzen galt. Schließlich hatte man ja etwas "versprochen" und "sein Wort gegeben"...
Nun ja. Man sagt auch: Die Hoffnung stirbt zuletzt ;)
Im Fall Mappus würde ich es etwas schärfer formulieren: er wurde ja als Hoffnungsträger gehandelt. Sollte sozusagen in seiner Person endlich das Prinzip Strauß mit dem Prinzip Kohl versöhnen - und Merkel beenden. Dann ging ausgerechnet der Strauß vorzeitig mit ihm durch.
Und nun gibt es nur noch Merkel, und die CDU-Rechte sitzt in der Vakuum- Falle. Man könnte also vermuten, die aktuellen Kohl-Festspiele hätten den Sinn, das zumindest vorläufige Koma der CDU-Spießer etwas zu versüßen.
Wohin Merkel postdemokratisch steuern möchte, könnte sich an einer Kleinigkeit bei der anstehenden Stuttgarter OB-Wahl erschließen: Merkel will offenbar nach dem ersten Wahlgang höchstselbst und vor Ort Wahlkampf für Turner machen. "Unternehmer", parteiloses CDU-Mitglied, Technokrat (?).
Weshalb ist dieser Mann ihr so wichtig? Ist er ihr Politikertyp der postdemokratischen Zukunft? Will sie so die postfaschistoiden schwarzen Spießer los werden?
Wulff war jedenfalls der letzte bedeutende "Kohl-Enkel" (?) und CDU-Spießer, Röttgen der letzte Funktionärs-Streber aus der Ära. Beide sind erfolgreich entsorgt. Ich kann mir schwer vorstellen, dass Merkel da eine Rennaissance wünscht/ zulässt. Darauf bezog sich mein Satz vom Höhe- und Endpunkt.
Die Frage ist, was strebt sie stattdessen an: den aalglatten, scheinbar ideologiefreien Managertypen? Also den schwarzen Steinbrück? Dass dies bessere politische Zeiten bringt, sage ich nicht. Nur, dass ich froh wäre, wäre die Ära Kohl endlich zuende.
Manche der sich selbst zur intelektuellen Oberschicht zählenden Zeitgenossen, die zur Zeit der Kanzlerschaft Helmut Kohls mit einem ganz ähnlichen Vokabular unterwegs waren, haben ihre Meinung über den Altkanzler inzwischen gründlich geändert. Einigen sind dabei sogar Zweifel an der eigenen Urteilsfähigkeit gekommen. Anderen ist diese Entwicklung offenbar nicht gelungen. - Das ist nicht weiter schlimm, aber aufschlussreich.
Eins kann man bei all den "Segnungen" des Herrn Dr. Kohl niemals vergessen: Er ist bislang der einzige deutsche Kanzler, den man ungestraft öffentlich korrupt nennen kann - hat er doch seine Schuld seinerzeit durch immerhin 300.000 DM freiwillige (!) Strafzahlung eingestanden, um einem echten, wahrscheinlich vernichtenden Urteil zuvorzukommen.
Von Leuten wie Christian Wulff unterscheidet ihn aber trotzdem eines: Er wusste und weiß jederzeit genau, wie das Spiel um die Macht funktioniert.
Tja, Henschel erwähnt nur die "Lieblichen", wie Schreckenberger, Zimmermann. Denn die Mängel wie "die geistigen und die politischen Voraussetzungen. ...fehlt alles [ihm] dafür.“ dürfte Strauß entweder direkt von der Nazi Resterampe gesteckt bekommen haben, oder, deiwi, beim Engelmann gelesen?
http://dinkelschnitte.files.wordpress.com/2012/10/kohl.jpg
Ergänzen kann man noch, dass die lange Kanzlerschaft bereits unterbrochen worden wäre, wenn Lafontaine, der die Wahl 1990 praktisch schon gewonnen hatte, nicht von einer psychisch Gestörten mit einem Messer im Blumenstrauß attackiert hätte. Der darauf folgende Anschlag auf Schäuble/CDU verhinderte eine Mitleidswahl pro Lafontaine/SPD.
2. Den Mantel der Geschichte legten Kohl engagierte Berater (z.B. Rühe) an. Kohl/Schäuble wollten 1989 Ruhe und den Erhalt des Status quo. Sie wollten bereits den Mann mitt dem Köfferchen und der Milliarde für Honnecker losschicken. Als die Ostdeutschen alles überrollten, sprang Kohl auf den Zug auf. Dann machte er aber alles richtig. Nur sein 10-Punkte-Programm zur Einheit kann nicht von dem simpel Denkenden und unbeholfen Sprechenden stammen.