Emanzipationsgeschichte Burkhard Spinnens burlesker Jugendroman aus unserer Patchworkfamilienzeit heißt "Müller hoch Drei" und ist ironisch uns hat genug doppelten Boden für erwachsene Leser
Die Anfangsszene hat es in sich. Paul Müllers Eltern treten vor ihn hin und verkünden: „Wir trennen uns“. Sie meinen aber nicht voneinander, sondern von Paul. Er sei 14 Jahre alt, alt genug, allein zurechtzukommen; sie brauchten jetzt mal etwas Zeit für sich. Die Koffer sind schon gepackt, die Flüge für die Weltreise gebucht, Paul fällt nur noch ein, ihnen aus Protest nicht hinterher zu winken.
Vom Schwungrad dieses Anfangs getrieben, kommt die Geschichte schnell in Fahrt. Alle zwei, drei Kapitel greift Spinnen in die Speichen und schiebt das Erzählrad noch mal an. Paul ist nicht nur „das schlechtestbehandelte Trennungskind von ganz Neustadt“, er bekommt gleich noch einen verfressenen und schwer erziehbaren Welpen namens Piet Montag
iet Montag per Post und trifft unterwegs auf Paula. Die entpuppt sich als seine Zwillingsschwester, von der er noch nie gehört hat. Schließlich erfährt er noch von einer Tante, dass da auch noch Pauline existiert, Drilling Nummer drei. Und so treibt es auf der Suche nacheinander und der Fürsorge füreinander die Protagonisten wie in einem Roadmovie quer durch Deutschland, vom verschlafenen Provinzstädtchen Neustadt nach Berlin, dann an die Ostsee, von dort in die Alpen und wieder retour. Und all dieser Aufruhr für einen einzigen Zweck: Paul will sich eine Familie basteln.Sogar eine HexeAm Ende der abenteuerlichen Fahrt wird er zwei Wochen Zeit gewonnen haben, um diese neue Familie zusammen zu basteln, Patchwork hoch drei. Wie überhaupt denkt Paul Familie? „Was wir brauchen, ist eine richtige Familie. Leute, die uns zwingen, regelmäßig gesunde Sachen zu essen. Leute, die unsere Wäsche waschen und uns überreden, uncoole Sachen zu tragen, damit wir uns nicht erkälten. Und Leute, die uns erklären, warum es besser ist, zur Schule zu gehen als sich bei einem Superstar-Casting zu melden.“ Diese Art selbstdisziplinierender Vernunft passt zu dem ein wenig ängstlichen, zögerlichen und überbehüteten Paul, dem es noch an Selbstbewusstsein mangelt.Das freilich erwirbt er sich in dieser Geschichte, die also auch eine Bewährungsgeschichte ist, eine Emanzipationsgeschichte. Und dazu noch ein modernes Märchen. Hänsel und Gretel als Ur-Story von den verlassenen Kindern wird da wohl als Erzählmuster Pate gestanden haben (und mit der grässlichen Nachbarin ist auch eine Hexe zur Stelle), aber auch das Modell Emil und die Detektive von Erich Kästner, die auch ganz allein zurecht kommen müssen.Das alles hat Spinnen aufgelegt auf das Muster heutiger Familienkonstellationen. Mehrfach gebrochen sind sie für die Drillinge. Paula befürchtet Zwangsheirat durch einen indischen Stiefadoptivvater (was sich als übertrieben herausstellt), Pauline sitzt als Zankapfel zwischen den zerstrittenen Adoptiveltern Schönewein. Verständlich, was Paul sich da als Familienvorteil ausmalt: halbwegs normales Leben garantieren.Das klingt nach schwerem Thema. Aber Spinnen baut mit seinem Personal vor. Die Drillinge sind nicht nur charakterlich sehr unterschiedlich ausgestattet, der Autor hat sie auch noch gegen die Erwartungen besetzt. Es ist Paula, der die Schnitzel gar nicht groß genug sein können, während Paul sich mit Milchreis und Multivitaminsaft durchs Leben schlägt. Er ist vermutlich der einzige Junge in der Kinderbuchwelt der letzten Jahre, der, anders als seine Schwestern, mit Computern gar nichts anfangen kann (der „Paul“ aus Peter Maiwalds lyrischem Kosmos war auch so einer). Dafür ist er mit dem Leben beschäftigt: „Mit vierzehn ist man, wie mein Vater sagen würde, ‚ein Spielball der Naturgewalten‘“, erklärt Paul. „Man muss abwarten, was kommt, und froh sein, wenn es einem nicht auf den Kopf fällt.“Geruch von BohnerwachsNa ja, es kommt einiges runter, in der Welt dieser Kinder geht es turbulent, manchmal derb und manchmal federleicht zu. Da ist der zauberische Hund, der aus dem Märchenmodus heraus agiert und für überdrehte Aktionen sorgt. Da ist die merkwürdige Tante, die Landmaschinen verkauft und an multipler Aversion leidet, an Aversion gegen alles; nur der Geruch von Bohnerwachs, festgesetzt in einem alten Café, kann ihr Leiden lindern. Da ist ein merkwürdiger Herr Bruno Hochschmidt, der Tiere zu ungewöhnlichen Aktionen dressieren kann und auf einem alten Computer hantiert, auf dem ihm ein alter Hacker Zugänge zu allen Informationen, auch der Geheimdienste, hinterlassen hat. Hochschmidt weiß eine Zeitlang alles über alle – und ist damit überhaupt nicht glücklich. Eine schöne zeitgemäße Romanfigur.Burkhard Spinnen, 1956 geboren, freier Schriftsteller in Münster, seit ein paar Jahren sogar Vorsitzender der Klagenfurter Literaturjury, beschreibt seine Geschichte auch mit einer gehörigen Portion Sprachlust und Vergnügen an triefender Ironie. Etwa Pauls Sicht auf das Bundeskanzleramt: „Das Gebäude erinnerte mich an eines der Hindernisse auf dem Minigolfplatz von Neustadt. Man muss mit dem Ball eine Öffnung in seiner Mitte treffen; gelingt einem das, dann rollt der Ball aus dem Hindernis direkt ins Loch.“ Derlei Ironie wird möglicherweise bei den jugendlichen Lesern gar nicht ankommen. Aber die können sich ja an die Actionseite der Geschichte halten. Gute Jugendbücher haben ohnehin soviel doppelten Boden, dass auch erwachsene Leser ihr Vergnügen finden.
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