John von Düffels klassische Angstfrage bei Lesungen lautet: "Wie schreiben Sie?" Da sie aber immer wieder gestellt wird, hat er sich für die Beantwortung eine Strategie zurecht gelegt, bei der er elegant vom trockenen Poetengeschäft zum Schwimmen hinübergleitet. Nur kurz verweilt er bei der grüblerischen Tätigkeit am Stehpult und begibt sich nach ein, zwei Bemerkungen über das Los des Schriftstellers mit gekonntem Sprung in eben jenes nasse Element, das ihm vertraut ist und in dem er sicher seine Bahnen zu ziehen versteht - ins Wasser. "Ich ziehe Parallelen zwischen der Endlosigkeit des glatten, kachelblauen Wassers vor dem Startsprung und den langen Strecken weißen Papiers am Anfang eines Romans." John von Düffel ist leidenschaftlicher Schwimme
mmer, und sein erster, 1998 erschienener und mehrfach ausgezeichneter Roman handelt und heißt Vom Wasser (Freitag 50/98). Er verwendet Schwimmen als Metapher für Überwindung von Angst, Bewegung, Getragenwerden. Denn wer schwimmen kann, hat gelernt, sich in einem Element zu bewegen, für welches der Mensch eigentlich nicht geschaffen ist, hat im Vertrauen auf die eigene Kraft die Angst vor dem Untergang überwunden.Mit Zeit des Verschwindens hat Düffel seinen zweiten Roman vorgelegt. Er ist damit dem Motto des ersten - "Wir kehren immer wieder zum Wasser zurück" - vielleicht doch gar nicht so weit entfernt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, wenn unter Rückkehr nicht allein die sich alljährlich im Sommer einstellende Sehnsucht nach Sandstränden und Badespaß verstanden wird. Vielmehr wird durch das Wasser ein schaurig-schönes Gefühl assoziiert, schwingt dabei etwas von Pioniergeist und Untergangsvisionen, von Glück und Scheitern mit. In der Begegnung mit dem Wasser leben die Legenden und Mythen, die Geschichten von wundervollen Verheißungen wieder auf, die nicht nur in der Odyssee zugleich auch die von Grauen erregenden Gefahren sind. Vielleicht ist es gar nicht so weit hergeholt, das Schwimmen als einen letzten außerordentlich kühnen Balanceakt zu verstehen, bei dem der Mensch an seine Grenzen geht, mit dem Wasser seine Kräfte misst, sich über Untiefen hinweg bewegt - wohl wissend, dass es sie gibt, aber ihnen trotzend, wenn er es versteht, über sie hinweg zu gleiten, und das Wagnis gelingt. Ohne Zweifel, Düffel steht damit in einer langen Traditionslinie, die von der Odyssee bis zum ganz Trivialen reicht. Denn ein gut Teil der Literatur ist ziemlich nah am Wasser gebaut, häufig und gerade auch dann, wenn es nicht ausdrücklich thematisiert wird.Über die beiden Lebensschicksale, die Düffel in dem neuen Roman einer näheren Betrachtung unterzieht, bliebe wenig zu sagen, würde uns der Autor nicht einen Blick hinter die Stirnen seiner literarischen Figuren erlauben. Nichts an dem Mann, der während einer Autofahrt überlegt, ob er seinen Sohn zu dessen Geburtstag besuchen soll oder an der Frau, die angesichts des Todes ihrer Schwester über ihre und die Krise ihrer Beziehung nachdenkt, wäre auffällig, ungewöhnlich oder Besorgnis erregend. Erst die Entscheidung Düffels, erzählerisch zwei für sich stehende Psychogramme offen zu legen, die konsequent aus inneren Monologen entwickelt werden, ermöglicht einen Einblick, welche losgelösten und nicht mehr zu bändigenden gewaltigen Kräfte hinter den wohl geordneten äußeren Fassaden wirken. Irgendwann bringen die Figuren nicht mehr die Kraft auf, den äußeren Schein zu wahren. Der Mann, der sich Philipp nennt, den es zu seinem Sohn hinzieht, dem er nah sein will, vermag die Kluft nicht zu überwinden, die beide trennt. Er spürt die Fremdheit, die ihm entgegengebracht wird, wenn er als Gast bei seiner Familie zu Besuch ist. Durchzogen sind seine Monologe von einer großen Utopie, dem Wunsch, irgendwo zu Hause sein zu können, angenommen und verstanden zu werden. Doch diese Sehnsucht bleibt ungestillt. Er findet keinen Ausweg aus seiner Unbehaustheit und ist unfähig, über seine Konflikte zu sprechen. Nur noch im monologischen Zwiegespräch mit erdachten Gesprächspartnern vermag er zu artikulieren, was ihn bedrängt. Auch die zweite Figur schafft es nicht, der Krise zu entkommen. Der Tod der Schwester ist für Christina gleichbedeutend mit einer Ausnahmesituation - der Verbannung in ein Niemandsland. Der Verlust der Bezugsperson, auf die bezogen sie gelebt hat, lässt sie verstummen. Geübt im Verlieren, gewohnt, sich mit Verlusten abzufinden, entläßt sie sich aus einer Liebesbeziehung, bevor sie verlassen wird. Der Beziehung zu Hendrik, die ihr Halt sein könnte, traut sie nicht. Nicht weil er ihr dafür Anzeichen liefert, sondern weil es keine Sicherheiten gibt, sie in einer Geste, einem Wort Anzeichen für Trennung entdeckt. Fatal klingt ihr Lebensresümee: "Ohne Zorn kann ich feststellen, daß ich alles dafür getan habe, um systematisch um mein Leben betrogen zu werden. Ich vermisse es fast gar nicht."Auf den ersten Blick kommen die Geschichten nicht zusammen. Es gibt nur eine Andeutung, dass Christinas Schwester von Philipp überfahren wurde. Doch die Episode bleibt für das Geschehen marginal. Aufeinander bezogen sind die beiden Erzählungen durch die Figuren, die als Leidensgefährten wesensverwandt sind. Beide Geschichten erzählen von Beschädigungen, von Wunden, die nicht heilen wollen und von Selbstaufgabe. Düffels Protagonisten nehmen das mit Sicherheit Kommende vorweg und lösen sich aus den Bindungen, an denen sie über alles hängen. Darin besteht ihre Tragik. Sie gewinnen nicht an Freiheit, sondern enden in einer Sackgasse, aus der es für sie kein Entrinnen mehr geben wird. Düffel zeichnet letzte Momentaufnahmen von Untergehenden. Er betreibt keine Ursachenforschung, fragt nicht nach möglichen Gründen - eine Biographie gesteht er seinen Figuren nur in Ansätzen zu. Er beschränkt sich auf die Mitteilung von Krisenzuständen und wäre auch gar nicht gut beraten gewesen, noch deutlicher zu werden, wo die Symptome deutlich genug verweisenden Charakter haben. Ihm reicht, was für ein gesellschaftliches Zustandsbild dadurch imaginiert wird, ohne dass sich Düffel aufgefordert fühlt, es zu entwerfen. Stellvertretend für die, die nicht mehr die Kraft aufbringen, ihre Stimme zu erheben, schafft Düffel zwei Figuren, deren Gefühlsnotständen er erzählerischen Raum einräumt. Ein letztes Mal lässt der Autor seine Figuren für einen Moment aus den berghohen Wellen des Daseins auftauchen, bevor sie verschwinden. Sie sind nicht apathisch genug, um schwerelos im Strom des Lebens mitschwimmen zu können. Eine ungeheure Schwere zieht sie nach unten.John von Düffel: Zeit des Verschwindens. Roman. DuMont-Verlag, Köln 2000. 205 S., 34,- DM
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