Unter der Weltzeituhr am Alexanderplatz geht es emsig zu. Klaffende Wunden werden geschminkt, Dolchgriffe im Vorderkopf auf ihre Festigkeit geprüft. Passanten bleiben stehen und beobachten interessiert das seltsame Treiben. Etwa 400 "Untote" haben sich versammelt, um am ersten Berliner Zombiewalk teilzunehmen, der vom Alexanderplatz Unter den Linden entlang bis zum Brandenburger Tor führen soll.
Guido hat seine Zähne mit schwarzem Edding bemalt und sich überdimensional große Augenringe geschminkt. In seiner Hand hält er eine Mineralwasserflasche mit roter Flüssigkeit. "Das ist Rote-Beete-Saft, sieben Teile. Zwei Teile Kirschsaft. Ein Teil Orangensaft und Maisstärke. Schmeckt so´n bisschen nach Rohkost", erklärt er das Gemisch. Dann schüttet er sich den Saft über seinen Kopf. In kleinen Bächen rinnt die Flüssigkeit an ihm herunter und hinterlässt fein geäderte Muster auf Haut und Kleidung. Guido grinst zufrieden. Auch Freundin Heike nickt anerkennend. An ihrer Halsschlagader prangt eine riesige Wunde, die Augen hat sie mit einer Mischung aus lila und schwarz geschminkt, passend zu ihrem dunklen Outfit. "Ich bin Gruftie, wie viele hier. Deshalb bin ich auch geübt im Schminken", sagt Heike und sieht sich um. "Einige Leute hier kenne ich vom Sehen, einige persönlich aus der Szene. Die hinter mir sind garantiert auch Grufties. Das ist praktisch keine Verkleidung. Die abrasierten Haare, der Rock, die Lederstiefel. Wohingegen die mit dem weißen Kleid zwar zombiemäßig, aber nicht wie ein Gruftie aussieht." Heike nimmt einen Schluck aus ihrer Bierflasche. "Für mich ist der Zombiewalk eine Spaßveranstaltung", sagt sie. "Schließlich laufe ich täglich gegen den Strom der Gesellschaft." Ursprünglich sollte hier über Blut- und Organspenden informiert werden, meint Heike. Aber daraus sei nichts geworden. "Ist wohl jetzt ein anderer Veranstalter", vermutet sie.
"Die Idee kommt aus Kanada, und dahinter steckt lediglich der Spaß. Es soll auf nichts aufmerksam gemacht werden. Die Freude daran, mal anders zu sein als im normalen Leben und vielleicht auch ein wenig zu provozieren ist für uns der einzige Grund den Zombiewalk abzuhalten." Schreiben die Betreiber der Website zombiewalks.de, die lieber anonym bleiben wollen. Der Zombiewalk sei eine Art Flashmob, ein mehr oder weniger spontanes Zusammenfinden von Zombie-Fans und nicht als Demonstration angemeldet.
Wie viele andere Zombies hat Koch Timmy aus Hamburg über das Internet vom Zombiewalk erfahren. Seine Haare sind toupiert, auf seinen Armen und Beinen wimmelt es vor Narben und Wunden. Für Fotografen und Touristen schneidet Timmy ungeniert Fratzen und wankt emsig auf und ab. "Ich bin ein Zombie, also will ich auch als Zombie rumlaufen", begründet er seine erste Teilnahme an einem Zombiewalk. Als Zombie möchte er provozieren und der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. "Viele haben keine eigene Meinung. Zum Beispiel bin ich heute so durch Berlin gefahren", erzählt er und deutet auf sein Outfit Die Leute denken sich: Oh, Gott, wo kommt denn der her? Und ich sage: Ich komme aus der Hölle. Eine vertretbare Provokation, finde ich."
Auch der 17-jährige Markus will etwas klarstellen: Seine Hände sind an ein Holzbrett gebunden, das er auf dem Rücken trägt. "Jesus was a Zombie" steht darauf. "Warum werden Zombies immer als böse dargestellt", fragt er sich. "Jesus ist ja auch erst gestorben, und lebte dann wieder auf der Erde. Er ist wieder auferstanden. Er war also ein Zombie. Aber er war nicht böse. Das ist der Beweis, dass nicht alle Zombies böse sein müssen."
Mitten unter den Zombies sitzt eine Gruppe Punks. Sie sind als Einzige nicht verkleidet. "Ganz ehrlich, wir waren bis vor ner Stunde noch bei ´nem Umzug", sagt Nadine und macht sich ein Bier auf. "Eine Kollegin hat angerufen und erzählt, dass sich hier irgendwelche Leute treffen. Wir haben aber keine Ahnung, um was es hier geht. Die Route geht anscheinend an der amerikanischen Botschaft vorbei. Da gehe ich von einem politischen Hintergrund aus. Ich erwarte jedenfalls einen politischen Hintergrund. Sonst finde ich es Schwachsinn. Ich dachte, das wär´ ne Art Demo hier. Mal gucken, ob wir mitgehen." Ihr Kollege Markus sieht das ein wenig anders: "Bisher fühl´ ich mich hier sehr wohl. Ich hab´ ein Bierchen. Es läuft schöne Musik. Das Wetter stimmt. Mehr davon, bitte", freut er sich.
Als die Zombies sich in Bewegung setzen, schließen sich Nadine und Markus an. Brüllend und taumelnd schiebt sich die Menge über den Alexanderplatz. Die Touristen zücken hektisch ihre Fotoapparate, als sich die Zombies gegen die Fenster der vorüberfahrenden Trambahn werfen und dabei mit den Zähnen fletschen. Einige Fahrgäste sehen angewidert weg. Andere scheinen sich zu amüsieren. Die Touristengruppe aus Freiburg beobachtet das Ganze von einem angrenzenden Café aus. "Bei dem einen oder anderen ist es wirklich eine schöne Verkleidung", findet Rolf. "Ich denke, es tut gut, sich selber mal auf ´ne andere Art darstellen. Und ein wenig Spaß ist sicherlich auch dabei", glaubt er. "Hey Leute", brüllt ein junger Mann, der mit dem Fahrrad an den marschierenden Zombies vorbeifährt: "Halloween ist schon vorbei! Und Karneval der Kulturen auch."
Die 21-jährige Steffi lässt sich davon nicht beeindrucken. Mit hängendem Kopf schlurft sie der Menge hinterher. Ihren Kopf hebt sie nur, um an ihrer Zigarette zu ziehen. "Ich bin die tote Abi-Ballprinzessin", erklärt sie. "Das ist mein Kleid vom Abi-Ball. Ich fand´s cool, das zu zerstören. Besser als ´ne Jeans zu zerfetzen. Ich find´s toll, dass man ohne Fernsehen und Zeitung zusammenkommt und zusammen irgendwas macht. Es kommt zwar keine Message rüber. Aber die Reaktion von den Menschen ist der absolute Hammer. Wie man Menschen so glücklich machen kann, in dem man sich verkleidet. Das ist so toll."
Am Lustgarten wird die Zombiemenge von Polizeiwannen aufgehalten. Damit die Zombies den Verkehr nicht durcheinander bringen, will die Berliner Polizei sie auf ihrem Marsch Unter den Linden begleiten.
Ganz vorne in der Menge torkelt Christian. Der Stuttgarter hat sich als OP-Pfleger verkleidet und demonstriert einem Polizisten stolz seine professionell aussehende Wunde am Oberarm. Christian ist eigentlich Krankenpfleger. "Ich beklecker´ mich im täglichen Leben mit Blut, also warum nicht auch in meiner Freizeit", sagt er. Sein Lieblingszombiefilm ist Dawn of the Dead von 1978. "Weil die Manie hier begonnen hat", sagt er. Die Herausforderung beim Zombiewalk ist für ihn das Schminken. Er findet es auch spannend, wie die Leute auf die Verwandlung reagieren. Als Zombie ist er erfahren. Er war bereits bei Zombiewalks in Essen, Köln und Heidelberg. "In Heidelberg waren die Reaktionen teilweise auch negativ", erzählt er. "Gerade ältere Leute haben es nicht so ganz verstanden, warum man sich als Toter verkleidet. Hier ist das anders. Berlin ist ja dafür bekannt, dass hier Verrückte einfach so rumlaufen."
Im Maredo-Steakhaus Unter den Linden hat man mit Verrückten nicht viel am Hut. "Ich find´s unmöglich, und ich möchte auch nicht darüber reden", sagt ein finster dreinblickender Familienvater, der mit Frau und Tochter an einem Tisch vor dem Lokal sitzt. Angewidert beobachtet er die keuchende, hinkende und blutige Menge. "Ich finde, das passt einfach nicht in die Gesellschaft."
Am Brandenburger Tor steht Detlef aus Neukölln mit freiem Oberkörper und einem Fotoapparat vor der Nase. Er ist auf Samstags-Spazierfahrt und ein wenig aufgeregt, als die Zombies auftauchen. "Erst hab ich gedacht, das ist ein schlechter Scherz. Ich weiß gar nicht, wo die alle herkommen. Wo die sich wohl umgezogen haben?" Detlef grübelt. "Wenn ich mir die so angucke, kommen die jedenfalls alle aus der Szene. Oder wenigstens alle von den Grufties oder so. Das seh´ ich an den Haaren, diesen Irokesenschnitten." Da kommt ein Zombie auf ihn zu. Er hat ein blutverschmiertes Gesicht. In seinem Hals steckt scheinbar ein Flaschenhals. Der Zombie torkelt um ihn herum und röchelt. Detlef wird jetzt unruhig. "Hast Du vielleicht Hunger?", fragt er den jungen Mann unsicher, packt vorsichtshalber den Fotoapparat ein und tritt einen Schritt zurück.
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