Eine Wende in der Erinnerungskultur?

Nationalsozialismus Der Deutsche Bundestag ist dem Appell zur Anerkennung der ignorierten NS-Opfer gefolgt. Initiator Frank Nonnenmacher sieht darin einen ersten Schritt
Der „Rote Winkel“, das Zeichen der Nazis für politische Häftlinge
Der „Rote Winkel“, das Zeichen der Nazis für politische Häftlinge

Foto: imago images / Schöning

Am 18. April 2018 habe ich den Appell zur Anerkennung der seit 75 Jahren ignorierten NS-Opfer dem Bundestagspräsidenten übergeben. Über 22 000 Menschen, darunter 125 namhafte Personen aus Politik, Kultur und Wissenschaften als Erstunterzeichnende haben ihn unterstützt.

Am 13. Februar 2020 ist der Deutsche Bundestag diesem Appell gefolgt und hat einem Antrag von CDU/CSU und SPD zugestimmt, dem sich auch die Fraktionen von B90/Grüne, FDP und LINKE angeschlossen haben. Hierzu sieben Anmerkungen:

1.

Über diesen jetzt endlich erfolgten Schritt freue ich mich – wie alle Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Appells. Die speziellen Opfergruppen nationalsozialistischen Unrechts, für die wir im öffentlichen Diskurs noch nicht einmal einen nicht-diskriminierenden Namen haben, erfahren endlich die Anerkennung, die ihnen seit 75 Jahren durch Gesetzgeber und Gesellschaft verweigert wurde. Jetzt kann und wird in Bezug auf die bisher ignorierten Opfergruppen eine Wende in der Erinnerungskultur eintreten.

2.

Durch das 75jährige Zuwarten ist die Situation eingetreten, dass kaum noch eine Person lebt, die als Opfer in den Genuss einer materiellen Entschädigung kommen kann – ganz zu schweigen von einer geachteten Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Zynisch könnte man sagen: Das hat sich die Bundesrepublik Deutschland gespart.

Dennoch ist die Anerkennung durch den Bundestag bedeutsam für die Angehörigen und Nachkommen dieser NS-Opfer. Ein offeneres Umgehen mit der Familiengeschichte wird möglich, auch ein Zugänglichmachen der privaten Dokumente für die Forschung. Ein beschämendes und beschämtes Schweigen kann jetzt ein Ende haben.

3.

Bedauerlich ist, dass eine Gruppe unter den von den Nazis „Berufsverbrecher“ genannten Opfern, die nach dem sogenannten „Polenstrafrecht“ Verfolgten, nicht eigens ausführlich gewürdigt werden – mit Ausnahme der Vorlage der Fraktion DIE LINKE. Diese Menschen – Polinnen und Polen in den besetzen Gebieten – wurden nach einem laut den Nürnberger Prozessen gegen die Menschlichkeit verstoßenden Strafrecht wegen Nichtigkeiten zu hohen Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt, ab 1942 aus den Gefängnissen geholt, als „Berufsverbrecher“ in die KZ überstellt und dort in großer Zahl und sehr kurzer Zeit ermordet. Diese spezielle Opfergruppe eigens zu würdigen muss nachgeholt werden – nicht zuletzt auch als Geste der Empathie mit unseren östlichen Nachbarn.

4.

Es haben heute vier inhaltlich weitgehend übereinstimmende Anträge vorgelegen – der gemeinsame GroKo-Antrag und je ein Antrag von B90/Grüne, FDP und Linke. Bedauerlicherweise gab es keine gemeinsame Entschließungsvorlage aller demokratischen Parteien. Vor diesem Hintergrund ist zu begrüßen, dass die Oppositionsfraktionen (außer der AfD) dem Antrag der Großen Koalition zugestimmt haben, obwohl die GroKo deren in der Tendenz gleichen Anträge ablehnte. So konnte dann doch die dem Thema angemessene breite Mehrheit entstehen.

5.

Der Beschluss muss Folgen haben: So ist es nur folgerichtig, dass Mittel bereit gestellt werden müssen zur Finanzierung ausstehender Forschungen, z.B. zu Einzelschicksalen, zu quantitativen Erhebungen, zur Erstellung einer abrufbaren Wanderausstellung und für Formate der historisch-politischen Bildung.

6.

Nach wie vor gibt es keine organisierte Interessenvertretung der „vergessenen“ NS-Opfer oder ihrer Nachkommen, die den Prozess der Umsetzung der Beschlüsse vom 13. Februar 2020 beobachten und kritisch begleiten könnte. Deshalb müssen die Fraktionen, vor allem aber die kritische Öffentlichkeit den Entscheidungsprozess, z. B. um die Höhe des Finanzbedarfs und die Mittelbewilligung aufmerksam verfolgen.

7.

Im Zuge der Umsetzung des heutigen Beschlusses müssen auch Vorschläge für Orte würdigen Gedenkens dieser Opfergruppen gemacht sowie – eventuell durch einen künstlerischen Wettbewerb – eine angemessene gestalterische Formensprache gefunden werden.

Prof. Dr. Frank Nonnenmacher ist der Initiator des Appells an den Bundestag zur Anerkennung der ignorierten NS-Opfer und Nachfahre eines von den Nazis als „Berufsverbrecher“ bezeichneten KZ-Häftlings

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