Erdoğans Macht steht bei diesem Votum auf des Messers Schneide
Foto: Aris Messsinis/AFP/Getty Images
Seit Ende der 1960er Jahre habe ich als Journalist sämtliche Parlaments- und Regionalwahlen verfolgt. Es fiel mir nie allzu schwer, eine Vorhersage zu treffen. Ich war jedes Mal imstande, Fragen zu beantworten wie: Welche Partei wird allein an die Macht kommen? Wird eine Koalition gegründet? Wenn ja, zwischen welchen Parteien? Es kam selten vor, dass ich falschlag. Doch Derartiges wie die jetzt anstehende Abstimmung habe ich noch nie erlebt. Es ist nahezu unmöglich, sich auf Prognosen einzulassen. Umfrageinstitute, die mit ihren Ergebnissen die Parteien zufriedenstellen, die sie finanzieren, haben zu viel an Seriosität eingebüßt, als dass man ihnen noch vertrauen könnte. Die tiefe politische und kulturelle Spaltung der Gesellschaft, deren Samen bereits vo
vor Jahrzehnten in den Boden kam, macht sich jetzt in einer Weise bemerkbar wie selten zuvor.Ausschluss der HDPAm 24. Juni wird es sowohl eine Parlaments- als auch Präsidentschaftswahl geben. Wobei der Begriff „Präsident“ irreführend ist, denn nach dem Referendum vom 16. April 2017 ist die Türkei zu einem autoritären Präsidialsystem übergegangen. Es ist noch nicht in dem Maße vollendet wie in den USA. Begriffe wie Autokratie und Oligarchie beschreiben am besten, wozu dieser Systemwechsel geführt hat.Erdoğan scheint sich dessen bewusst zu sein, dass seine Macht bei diesem Votum auf des Messers Schneide steht. Deshalb veranlasste er eine äußerst kuriose Änderung im Wahlgesetz. Anstatt die Zehn-Prozent-Hürde aufzuheben, führte er ein System ein, das in anderen Ländern seinesgleichen sucht. So dürfen mehrere Parteien eine Koalition – nach Erdoğans Worten eine „Allianz“ – bilden, die ausschließlich für diese Wahl gedacht ist. Die Wähler können ihre Stimme gleichzeitig für eine Allianz wie eine der Parteien abgeben, die zu diesem Verbund gehören. Je nach dem Stimmenanteil der einzelnen Parteien werden die Abgeordneten verteilt, die der Allianz zustehen. Diese „Erfindung“ sollte ursprünglich einem einzigen Ziel dienen: Die islamische geprägte AKP, die zwar stark ist, der aber ein paar Prozente fehlen könnten, will sich dank der Stimmen, die für die nationalistisch-rassistische MHP, in Deutschland bekannt als „Partei der Grauen Wölfe“, abgegeben werden, die Mehrheit sichern. Die Liaison zwischen AKP und MHP nennt sich „Allianz des Volkes“.Placeholder infobox-1Dieser mutmaßlich geschickte Schachzug hatte für die Regierungspartei fatale Konsequenzen. Denn vier Oppositionsparteien, von denen Erdoğan niemals angenommen hatte, dass sie eine äquivalente Allianz eingehen, bilden nun ebenfalls eine Koalition. Es sind die republikanische CHP, eine kemalistische Partei, die seit längerer Zeit ohne Erfolg bemüht ist, sich zu sozialdemokratisieren. Dazu kommt die SP, die Partei der Glückseligkeit, als kleine, gemäßigt islamische Partei und die İyi-Parti (Gute Partei), die sich vor einigen Monaten aus MHP-Dissidenten formiert hat. Als vierter Partner fungiert die relativ bedeutungslose Demokratische Partei (DP/s. Übersicht). Diese Koalition nennt sich „Allianz der Nation“.Die prokurdische HDP wollte diesem Bündnis beitreten, scheiterte allerdings am Veto von Meral Akşener, Begründerin und Vorsitzende der İyi-Parti. Infolgedessen muss die prokurdische Partei der Völker allein antreten und versuchen, wie schon bei den Parlamentswahlen im Juni und November 2015, mehr als zehn Prozent der Wähler für sich zu gewinnen. Ein schwieriges Unterfangen, da in den kurdischen Regionen im Südosten HDP-Anhänger Polizeirepressionen ausgesetzt sind und durch illegale, aber wirksame Methoden daran gehindert werden, ihre Wahllokale zu erreichen. Andererseits existiert im Westen eine große Solidarität linker Intellektueller sowie der Zivilgesellschaft, die sich zum Beistand für die HDP bekennen. Ob dies ausgereicht hat, wird man wissen, wenn die Stimmen gezählt werden.Placeholder infobox-2Die Rivalität zwischen den Allianzen wird sich nach dem 24. Juni im Parlament fortsetzen. Doch schränkt das auf ein fragwürdiges Referendum im Vorjahr zurückgehende Präsidialsystem die Funktion der Legislative erheblich ein. Offiziell wird die Türkei nicht vom Parlament, sondern vom Präsidenten regiert. Sollte der aber mitsamt seiner Partei am 24. Juni die Mehrheit verlieren, müsste das Parlament das womöglich entstehende Machtvakuum füllen – ein Albtraum für Erdoğan. Ebenso wie eine mögliche Stichwahl, die am 8. Juli fällig wäre, sollte am 24. Juni beim Präsidentenvotum kein Bewerber mehr als 50 Prozent verbuchen.Voraussichtlich würde der Amtsinhaber dann auf Muharrem İnce, den Kandidaten der CHP, treffen, auch wenn Meral Akşener als Bewerberin der İyi-Parti stets beteuert, sie und niemand sonst werde den jetzigen Staatschef herausfordern. Man sagt von ihr nicht ohne Grund, sie sei eine „Graue Wölfin“. Freilich gründen ihre Hoffnungen auf Illusionen. Weder sie noch Selahattin Demirtaş, der junge, agile Co-Vorsitzende der HDP, der seine Wahlkampagne aus einer von jeglicher Kommunikation abgeschotteten Zelle im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses führen muss, haben auf mehr Aussicht als den ersten Wahlgang.Placeholder infobox-3Wenn ein Stechen ausgetragen wird, dann zwischen Erdoğan und İnce, der Überraschung dieses Wahlkampfes. Der war vor einigen Monaten noch gescheitert, als er auf einem CHP-Parteitag die Führungsrolle übernehmen wollte. Ein Journalist schrieb: „Wenn die Leute auf den Tribünen ebenfalls ein Stimmrecht besessen hätten und nicht nur die Delegierten, wäre ihm definitiv der Vorsitz der Partei sicher gewesen.“Im Wahlkampf hat İnce nicht darauf verzichtet, Erdoğan auch wegen seiner verfehlten Syrien-Politik anzutasten, die zu einem Spiel mit dem Feuer geworden sei und das Land von Europa entfremdet habe. Die Armee müsse nun für den Versuch aufkommen, dass man sich als Regionalmacht auf Schlachtfeldern einrichten wollte, die zu viele Risiken bargen. Statt einer selbstlosen Unterstützung für eine angeblich demokratische Aufstandsbewegung gegen Präsident Assad sei man fanatischen Dschihadisten gefällig gewesen, die sich unfassbarer Verbrechen schuldig gemacht hätten.Bestenfalls ein Pyrrhussiegİnce ist zwar ein Populist, aber diese Eigenschaft spricht mehr für den volksnahen als den opportunistischen Politiker, der auf Stimmungswogen reitet, die er selbst erzeugt hat. Insofern besteht für İnce durchaus die Chance, Erdoğan im direkten Aufeinandertreffen zu schlagen. Immerhin haben alle anderen Präsidentschaftskandidaten bereits offiziell verkündet, ihn in einer zweiten Runde unterstützen zu wollen, was rein arithmetisch zu einem Stimmanteil von über 50 Prozent führen dürfte. Wie die machtverwöhnte AKP und Erdoğan persönlich dann reagieren, darüber kann nur spekuliert werden. Auf jeden Fall steht das Land vor einer der kritischsten Wahlakte in seiner gut hundertjährigen Geschichte als Republik. Wird sich letzten Endes die Demokratie behaupten oder die Autokratie eines politisierten Islam durchsetzen, der gegen die innige Verbindung mit einem globalisierten Kapitalismus wenig einzuwenden hat? Sollte Recep Tayyip Erdoğan triumphieren, deutet allein die Tatsache, dass die Wirtschaft vor einem Absturz steht, darauf hin: Es wird sich lediglich um ein Pyrrhussieg handeln, der dem Land weder Wohlstand noch innere Stabilität verheißt. Bei allen Unwägbarkeiten kann ich wenigstens das sicher vorhersagen.Placeholder authorbio-1Placeholder link-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.