Wir sind viel länger tot als lebendig." Das sagt die geliebte Tante der Ich-Erzählerin in Aglaja Veteranyis neuem Roman nur wenige Zeit vor dem eigenen Tod. Nun ist sie gestorben, und die Verwandtschaft findet sich ein. Die letzten Totenrituale werden vollzogen, die Beerdigung findet statt.
So weit die Rahmenhandlung von Das Regal der letzten Atemzüge, jenem Roman, an dem die Autorin bereits arbeitete, bevor noch ihr Erstlingswerk Warum das Kind in der Polenta kocht (Freitag 41/99)veröffentlicht war, und der nun als Teil ihres literarischen Nachlasses vorliegt, nachdem sie sich im Februar 2002 aus freien Stücken das Leben nahm. Ein Abschied in Worten ist auch Das Regal der letzten Atemzüge. Denn wie schon im ersten Buch durchmischen sich das Spiel der Fiktion,
chmischen sich das Spiel der Fiktion, der Zauber der Sprache mit der Schwere des Erlebten, dem Gewicht der eigenen Biographie. Das unstete Leben als Kind einer Zirkusfamilie und die Emigration in die Schweiz, die Mutter eine Artistin, der Vater ein Schwerenöter, der joviale Onkel Costel, der stets weinende Onkel Petru, und nicht zuletzt die geliebte Tante, die Schwester der Mutter - all dies findet sich nicht nur bereits im ersten Roman von Veteranyj. Sondern es sind auch unauslöschliche Wegspuren ihres eigenen Lebens. So wundert es nicht, dass die 1962 in Bukarest geborene Autorin mit diesem Buch noch einmal zurück kehrt in diese Welt. Und vielleicht zurück kehren musste: Denn mit dieser, ihrer eigenen Herkunft, hatte sie umso mehr einen Abschluss zu finden gehofft, als sie 1977 in der Schweiz nicht nur ein neues Leben, sondern auch zu lesen und zu schreiben lernen beginnt, um sich des Familienmakels Analphabetismus zu entledigen.Wie im Leben, ist auch im Roman der Tod der geliebten Tante der Anlass, sich zu erinnern. Die Erzählerin will die Geschichte neu sortieren und den verworrenen Familienkosmos ordnen. Eine Standortvermessung also, denn auch die Erzählerin ist inzwischen älter geworden: eine erwachsene Frau anstelle des Kindes, das noch dem ersten Roman den Tonfall vermeintlich naiver Scharfsichtigkeit verlieh. Und tatsächlich ist auch die Sprache selbst im Regal der letzten Atemzüge deutlich, ja fast erschreckend gereift: Endgültig von jedem Spiel entschlackt, ist hier nun eine aufs Wesentliche höchst konzentrierte Kraft am Wirken, ein Blick wie ein Brennglas, das die Welt, die zum Gegenstand gerät, schneidend scharf fokussiert. Immer noch wirkt eine poetische Logik jenseits der Ratio, doch nunmehr hat Veteranyi sie ganz in den Dienst der Erkenntnis, der Klarsicht gestellt. Eine Distanz, die den Verhältnissen, aus deren Verstrickung sie ihr Entkommen sucht, zugleich bedrohlich nahe rückt.Denn im Verlust der Tante spiegelt sich die immer vermisste Bindung zur Mutter. Ihr vor allem gilt diesmal die Rückblende auf die eigene Familie, die Veteranyi einbettet in die Beschreibung des Sterbens und des Todes. Die Mutter, die konnte sie "nicht lieben, nur anschauen"; sie bleibt ein leerer Spiegel, der vor allem in sich selbst und den Luxus verliebt ist, den sie anhäufen wird als Flüchtling in der Schweiz, weniger auf Kosten des Staates, denn auf Kosten der eigenen Tochter. Allein mit der Tante wird die Tochter eine Sprache finden, die sie mit der Mutter nicht teilen kann, auch wenn das schlechte Gewissen bleibt. So wird die Tante zur Mutter. Als sie stirbt, wird dem Leben ohne Fallnetz, das die Ich-Erzählerin führt, noch ein Boden unter den Füßen entzogen.Heimatlosigkeit, Ortlosigkeit - und der entschlossene Kampf, darin einen Platz zu finden: Davon ist das Buch noch da gefärbt, wo es die einzelnen Stationen der stetigen Entwurzelung wie ein lakonischer Zeitraffer erzählt. Da hallt es dann auch mal in trauriger Komik nach. In der Schweiz, wo man ein Leben auf Widerruf führt, ist alles "sehr gepflegt, vor allem die Alten"; die Mutter heiratet neu, denn der Vater geht mit einer der beiden Töchter nach Buenos Aires; dafür fällt nun die rumänische Verwandtschaft in Scharen ein, denn plötzlich sind die Grenzen geöffnet...Dem Zerfall der Familie aber, überhaupt dem Zerfall hält Veteranyi erneut die Ordnung der Sprache, das Reich der Worte entgegen. Wie sehr ihr dieser Weg als Seil über den Abgrund dient, erahnt man angesichts ihrer dünnhäutigen Feinnervigkeit, mit der sie noch dem Sterben selbst - der Krankheit der Tante, ihrem schleichenden körperlichen Verfall - eine Sprache verleiht, und das in einer Welt, in der der Tod keinen Platz, da keinen Namen zu haben scheint: "Das Sterbehaus der Tante hieß Erholungsklinik.""Nicht alles, was du vergißt, verschwindet", sagt Onkel Costel, der Mann der Tante, als er für deren Beerdigung den Totenkuchen backt. Wieviel Gramm Erinnerung und wieviel Gramm Vergessen, wieviel Tod das Leben selbst vertragen kann, das ist die Frage, die auch Das Regal der letzten Atemzüge aufwirft. Aglaja Veteranyi hat sie letztlich mit ihrem Leben beantwortet. Ihr Tod aber, das zeigt uns ihr zweiter und letzter Roman, ist ein großer Verlust. Nicht zuletzt, weil eine große Erzählerin aus der Welt gegangen ist.Aglaja Veteranyi: Das Regal der letzten Atemzüge. DVA, Stuttgart 2002, 132 S., 16,90 EUR
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