Er wirft ihn einfach weg, mitten im norwegischen Nichts. Er hat den grauen Stein tagelang mit sich getragen, über 200 Kilometer lang, zu Fuß. Einen Kieselstein, so groß wie ein Hühnerei, von der Wasserkraft der Nordsee geschmirgelt. Bernd Lohse hat ihn am Strand aufgesammelt, mitgenommen auf seine Reise zu sich und seinem Glauben – auf seinen Pilgerweg. Sein Ziel: Ihn an genau dieser Stelle wegzuwerfen und mit dem Stein seine Lasten: den Alltagsfrust, den Kampf mit einer Krankheit. Der Steinwurf ist ein Teil des jahrhundertealten Rituals in der Nähe des Dovrefjells auf dem skandinavischen Pilgerwegnetz nach Trondheim, das früher den Namen Nidaros trug.
Das Ziel ist der Dom in Trondheim, dort sollen die Reliquien von Olav dem Heiligen liegen. Deswegen tr
wegen trägt jede Pilgerroute, die dorthin führt, den Namen des Wikingerkönigs, der das Christentum nach Norwegen brachte: Olavsweg. Heute sind die Nidaros-Pilger vor allem auf dem 650 Kilometer langen Weg von Oslo nach Trondheim unterwegs.Die Olavswege sind anders als die bekannten anderen Pilgerstrecken: Im Norden sind bisher keine Prominenten unterwegs und schreiben Bücher darüber – es gibt bisher keinen Hype, der Weg ist keine touristische Attraktion. Und so ist es eher selten, dass eine Pilgergruppe auf andere Wallfahrer stößt, die auf dem gleichen Weg sind. Die Routen nach Nidaros bieten noch Einsamkeit, sie führen fast ausschließlich durch unbewohntes Gebiet.Jerusalem des Nordens„Das Besondere am Pilgern nach Nidaros sind die großen Herausforderungen: Es gibt lange Aufstiege, ein wechselhaftes Wetter, starken Gegenwind“, sagt Bernd Lohse. Er war im Jahr 1999 das erste Mal auf dem Olavsweg unterwegs, inzwischen ist er in Hamburg Pilgerpastor – der erste seiner Art in Norddeutschland. Lohse koordiniert die Arbeit mit Pilgern, organisiert Tagespilgertouren, berät Interessierte, spendet den Segen in Hamburg und stellt die Pässe aus. Er will ein norddeutsches Pilgernetzwerk aufbauen. Die halbe Stelle, die Lohse dafür hat, wird zum großen Teil aus Spenden finanziert.Die Pilgerwege im Norden sind relativ unbekannt und doch haben sie Tradition: Auf diesen Routen gibt es viele Orte mit sehr langer Geschichte. Zwischen 1030 bis zur Reformation in Skandinavien im 16. Jahrhundert war Trondheim Pilgermetropole, damals hieß der Ort noch Nidaros. Der norwegische Archäologe Øystein Ekroll glaubt sogar, dass die norwegische Stadt das Jerusalem des Nordens im 12. und 13. Jahrhundert gewesen sei – ein richtiges Pilgerzentrum. Doch Norwegen wurde protestantisch, das Pilgern verboten, zeitweise gar unter Todesstrafe gestellt. Und so geriet dieser Pilgerweg fast 500 Jahre in Vergessenheit.Ein Jahr nach seinem Tod in einer Schlacht ist der Wikingerkönig heilig gesprochen worden, die Menschen begannen zu seiner Grabesstätte zu pilgern. Alte Schriften berichten von Wundern in der Nähe des Grabes. Auf dem Höhepunkt des Pilgerwesens, so sagen Historiker, gab es auf den Wegen nach Trondheim eine gut organisierte Pilger-Infrastruktur mit Herbergen und Boot-Transporten.Lohse berät und begleitet nicht nur ganz reale Menschen über die Pilgerwege: Er ist auch Autor. In seinem Krimi Familienbande pilgern drei Strafgefangene zur Resozialisierung mit einem Gefängnispastor nach Nidaros. Sie sollen sich selbst finden und ihre Taten aufarbeiten. Dabei kommt es immer wieder zu Streitereien zwischen den drei Sträflingen, vor allem wegen der sehr unterschiedlichen Biografien.Krimi wirbt für die PilgerideeWährend die vier durch Norwegen pilgern, wird in Hamburg eine reiche, alte Dame ermordet. Nachdem die Ermittlungen angelaufen sind, taucht das Testament auf und die Familie ist entsetzt – fast alle erhalten nur den Pflichtanteil. Den Löwenanteil erhält der Sohn, der bei der Testamentseröffnung gar nicht in Hamburg ist, sondern auf Resozialisierungstour nach Nidaros.„Ich habe das Buch geschrieben, um das Erlebte auf dem Pilgerweg loszuwerden“, sagt Bernd Lohse. Schließlich sei Pilgern ja etwas anderes als nur Wandern – ein innerer Weg, der aufwühle, seine Spuren hinterlasse, einen beschäftige. „Doch mir geht es auch darum, die Pilger-Idee zu verbreiten, sie niederschwellig einem breiteren Publikum zugänglich zu machen“. Der Krimi ist nur der äußere Rahmen für die Handlung: Eigentlich geht es in dem Buch vor allem um Sinnsuche, Buße und das Erlangen von Gnade – und darum, den Olavsweg bekannt zu machen. So führen die Charaktere viele Gespräche untereinander, reflektieren ihr Verhalten und machen sich grundsätzliche Gedanken. Ganz nebenbei bekommt der Leser die Pilgerroute erklärt und anschaulich beschrieben.Heute versucht die lutherische norwegische Staatskirche, die Pilgerwege wieder ins Gedächtnis zu rufen, auch indem sie diese beschildert und Herbergen organisiert. Das Pilgerverbot von einst ist kein Thema mehr – heute kann jeder einen Pilger-Pass bekommen. 1997 wurde der westliche Pilgerweg von Oslo nach Trondheim wieder eröffnet, 2003 der östliche, an weiteren alten Routen wird gearbeitet. Und so gibt es heute zwei Möglichkeiten, von Oslo aus den Sechs-Wochen-Pilgerweg durch die abwechslungsreiche norwegische Natur einzuschlagen – eine westliche und eine östliche. Vorbei an Seen, durch den Nationalpark Dovre, durch Berglandschaften und vorbei an historischen Kirchenruinen und Stabkirchen. Vorbei an Plätzen, an denen schon Pilger vor über fünfhundert Jahren innegehalten haben, einem alten steinernen Gebetsaltar oder eben dem Platz, an dem die Pilger ihren Stein wegwerfen können.