Einer vertrage der anderen Last

Erzählmuster Warum müssen Menschen mit Behinderungen im Kino immer nur sterben wollen?
Ausgabe 25/2016

Mit Ein ganzes halbes Jahr kommt nun ein Film in die Kinos, der eine regelmäßig wiederkehrende Geschichte aktualisiert: Ein querschnittsgelähmter Mensch meint, es sei besser, tot zu sein als behindert, und bringt deshalb andere dazu, ihm beim Selbstmord zu helfen. Basierend auf dem Bestseller von Jojo Moyes (Originaltitel Me before you) sorgt die Romanze zwischen Pflegekraft Louisa Clark und dem querschnittsgelähmten Will Traynor unter Menschen mit Behinderungen für Ärger. Denn der frisch verliebte Millionär Traynor bekommt am Ende seinen Wunsch erfüllt: Sterbehilfe in der Schweiz.

Im echten Leben

Schon lange monieren Organisationen wie Not Dead Yet das Erzählmuster, das behindertes Leben als minderwertig und sinnlos darstellt und dessen Beendigung propagiert. Zum Start von Ein ganzes halbes Jahr in Großbritannien formierte sich lautstark Widerstand. Aktivisten verteilten vor Kinos Flugblätter und protestierten mit Twitterhashtags wie #MeBeforeEuthanasia. In Blogs wird von „Disability Death Porn“ gesprochen, einem Genre, das das Sterben behinderter Menschen zum Fetisch erhebt. Beispiele dafür sind Das Meer in mir (2004) oder auch Million Dollar Baby, Der englische Patient, Gattaca, Der Elefantenmensch, Der Glöckner von Notre Dame und der NS-Propagandafilm Ich klage an. Am Ende muss immer einer sterben: der behinderte oder chronisch kranke Charakter.

Als behinderter Mensch frage ich mich, warum sich der Mythos so hartnäckig hält, dass das aktive, selbstbestimmte Leben im Rollstuhl zu Ende sei. Ich kenne viele querschnittsgelähmte Menschen, die mit Assistenz und technischen Hilfsmitteln ein ausgefülltes Leben führen. Der Schauspieler Samuel Koch ist nach dem Unfall bei Wetten, dass ..? auf Rund-um-die-Uhr-Assistenz angewiesen, arbeitet aber am Theater in Darmstadt und ist frisch verlobt.

Will Traynor in Ein ganzes halbes Jahr ist offensichtlich depressiv, so wie viele „Disability Death Porn“-Protagonisten. Dass Menschen nach einem Unfall oder dem Beginn einer schweren Krankheit depressiv werden, ist normal. Die Trauer über den Verlust von Fähigkeiten geht meist über in eine Phase der Akzeptanz und Neuorientierung. Nichtbehinderten depressiven oder suizidalen Menschen legt man normalerweise eine Therapie nahe. Sind behinderte Filmcharaktere hingehen suizidal, wird das am Ende akzeptiert und sogar legitimiert. Filme wie Ein ganzes halbes Jahr stellen die Realität behinderter Menschen auf den Kopf: Oft ist die Tatsache, dass ihnen jemand auf die Toilette helfen muss, ein schwerer wiegendes Problem als ihre gesellschaftliche Stigmatisierung.

Gibt es romantische Annäherungen, lehnen die oft als „verbittert“ dargestellten behinderten Figuren das ab. Will Traynor geht auf Louisa Clarks Avancen nicht ein und will ihr mit seinem Freitod den Weg frei machen für einen „richtigen“ Mann. Im echten Leben ist es meist genau umgekehrt: Obwohl querschnittsgelähmte Menschen Sex haben können und wollen, werden sie oft als asexuell wahrgenommen und ihr Wunsch nach Liebe wird abgelehnt.

Diskriminierung und soziale Ängste vor Behinderung werden in „Disability Death Porns“ zum Problem der Einzelnen, das nach der individuellen Lösung Sterbehilfe verlangt. Dass behinderte Menschen sich und anderen ihre „Last“ ersparen wollen, ist eine Projektion. Die schwierige Auseinandersetzung darüber, wie wirkliche Teilhabe aussehen könnte, wird damit überflüssig. Das „Problem Behinderung“ ist bewältigt, und alle können sich gut fühlen. Der Behinderte selbst hat es ja nicht anders gewollt.

Info

Ein ganzes halbes Jahr Thea Sharrock Großbritannien 2016, 110 Minuten

Rebecca Maskos ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Bremen und Mitbegründerin von leidmedien.de

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