A–Z Ihr liebster Weidegrund ist das Silicon Valley – Unicorns, junge Firmen, in die viel Risikokapital gepumpt wurde. 2016 soll das Jahr des Einhornsterbens werden. Von wegen
Analytische Philosophie Als ich jung war und Philosophie studierte, schwärmte ich für Adorno und die Kritische Theorie. Habermas war schon na ja, aber an Dummheit nicht zu übertreffen war doch die sogenannte analytische Philosophie. Und da wiederum ragte in seiner Borniertheit (damals!) Willard Van Orman Quine (1908–2000) hervor, eine große Nummer bei einem meiner Professoren. Wie borniert (damals!) die analytische Philosophie war, zeigte sich an der Schlichtheit der Beispiele: Rosen, Kaninchen, Pegasus oder eben das Einhorn. Was bedeutet der Satz „Einhörner existieren nicht“? Nun, er bedeutet, dass die Aussagefunktion „x ist ein Einhorn“ nicht erfüllt ist.Etc., etc. Ich will Sie hier nicht langweilen. Später „emanzipi
nicht langweilen. Später „emanzipierte“ sich ein analytischer Philosoph, Hilary Putnam, immerhin so weit, dass er es in gewissen Kontexten für sinnvoll hielt, die Existenz von Einhörnern anzunehmen. Erraten: fiktive Kontexte. Und viel später stellte ich fest, dass Quines früher Klassiker From a Logical Point of View einem zauberhaften Calypso-Song von Robert Mitchum den Titel gab. Na ja, möglicherweise. Michael AngeleDDigital Native Das Einhorn ist für das Internet, was Eisbär Knut für schulpflichtige Kinder war. Mit dem Vorteil, dass es niemals sterben wird. In Nerdkreisen gibt es einen ausgeprägten Fankult um das Wesen. Das Einhorn taucht in allen möglichen Kontexten auf, vor allem auf Blogs und Twitter. Es ist schnell und stark, es ist queer und trans (➝ Party Animal), wandelbar und subversiv und bei alledem immer: süß. Wenn das Einhorn im Netz Gesellschaftskritik übt, kotzt es einen Regenbogen. Es gibt den Emotionen der digitalen Filterblasen ein Gesicht, eine Art Anonymous für die Gefühlswelt. Das Einhorn ist ein Klassiker, der neuere Netzmaskottchen wie Grumpy Cat, den Shiba-Hund oder diverse Emoticons überleben wird. Unsterblich eben. Wie ernst es die Fangemeinde meint, konnte man 2014 bei der Bloggermesse re:publica sehen. Dort hielt die Autorin Jessica S. Marquis einen Vortrag über die Kultivierung von Einhornfarmen, Stichwort Unicornomics. Ganz analog auf der Hauptbühne. Juliane LöfflerEEsoterik Gut 25 Milliarden geben die Deutschen jährlich für Eso-Kitsch aus. Ja, der Hokuspokus ist längst in der „Mitte der Gesellschaft“ zu Hause. Dabei gibt es verschiedene Härtegrade. Engel-Gläubige, wie die norwegische Prinzessin Märtha Louise, scheinen eine Restanbindung an die Realität zu haben, immerhin kommen Engel in der – real existierenden – Bibel vor. Aber was, wenn einem daheim ein Fabeltier begegnet? „Dieses Einhorn neben mir in meinem Garten wollte mir klar machen, dass Einhörner real, ätherische Wesen sind, die jenseits des Reiches unseres Sehens und Hörens leben“, heißt es bei Diana Cooper, einem Star der Szene. „Sie entstammen der kraftvollsten Lichtenergie und bestehen aus reiner Liebe“, schreibt Melanie Missing, ein anderes Mastermind im Einhorn-Business. So viel Mut zum proaktiven Bullshitting ist jeden Cent wert. Katja KullmannKKorkenzieher Das Horn des Einhorns war über viele Jahrhunderte aufgrund seiner speziellen Form (➝ Zauberschulwissen) das einzige Werkzeug, mit dem man Weinflaschen öffnen konnte. Das Tier wurde deshalb überall stark bejagt, bis schließlich die letzten Bestände im 14. Jahrhundert ausstarben. Die europäischen Kulturen reagierten unterschiedlich: In Frankreich entwickelte Georges de Tire-Bouchon den Korkenzieher. Der schöne Brauch, einer umworbenen Jungfrau einen Korkenzieher in den Schoß zu legen, erinnert noch heute in südlichen Ländern an die Sage, ein Einhorn ließe sich zähmen, indem man es dazu bringt, das Gleiche mit seinem Horn zu tun. In Deutschland erfand man das Bier: Zum Abhebeln der Kapsel reichte der Unterkieferknochen eines Wolfs oder Bären.Jahrzehnte versuchte man sich noch an Rückzüchtungen durch Kreuzung von Przewalski-Pferden und Narwalen, aber das Ergebnis war jedes Mal entweder ein sexuell übergriffiger Delfin oder ein Pony mit angeborenem Priapismus. Wir werden wohl nie wieder Einhörner in freier Wildbahn erleben. Uwe BuckesfeldLLetztes Die meisten Filme, die einem im Kopf hängen bleiben, tun das ja nicht deshalb, weil sie außergewöhnliche Kunstwerke sind, sondern weil man mit ihnen eine ganz bestimmte Situation assoziiert, in der diese Bilder, diese eine Erzählung eine besondere Bedeutung bekamen. Den Zeichentrickfilm Das letzte Einhorn (1982) samt Titelsong von America muss man nüchtern-analytisch betrachtet wohl als harten 80er-Jahre-Kitsch bezeichnen. Mein Blick darauf ist ein anderer: Als ich Das letzte Einhorn mit sechs, sieben Jahren im Kino sah, hatte die Geschichte für mich, nun ja, etwas Magisches.Kinderkino – das hieß, sonntagvormittags vom Dorf in die Stadt zu fahren, um dort in einen dunklen Raum zu verschwinden und in einer völlig anderen Welt zu versinken. Das weiße Einhorn war riesig auf der Leinwand, der böse rote Stier noch größer, und am Ende galoppierten aus dem Meer Tausende Einhörner und eroberten das Land zurück. Es geht in der Handlung, grob gesagt, um eine Wiederverzauberung der entzauberten Welt, aus der die Einhörner vertrieben worden sind. Gegen so eine Botschaft ist natürlich gar nichts einzuwenden. Nur eins: Man sollte sie nicht auf ewig mit dem Flötengesäusel von America assoziieren müssen. Jan PfaffPParty Animal Das Einhorn ist Disco-Queen ungezählter Mottopartys, Symboltier für Freundschaft und Kindercliquen (My Little Pony), Individualität und Menschlichkeit (Blade Runner) und erhabene Anführerin im Kampf gegen jede irdische Verwurzelung: Als der Mob im Juni in Freital aufmarschierte, da tanzte ein Stoff-Einhorn über den Köpfen von ein paar Antifas so schön und provokant zu verqueerer Popmusik, dass der Blut-und-Boden-Auflauf irgendwann Fußballchöre anstimmte: „Wir woll’n das Einhorn sehn, wir woll’n das Einhorn sehn, wir woll’n das Einhorn hängen sehn.“ Geflüchtete waren noch gar nicht da, aber das Einhorn ist von noch weiter her als Syrien, und nichts regt Nazis mehr auf als seine Abgehobenheit. Weißsein, Deutschsein, Mann- oder Frausein: Jede Identitätskategorie wird vom Einhorn weggeglitzert, es passt einfach nicht in diese Welt.Das dachte ich zumindest, bis ich eben im Internet ein rosa Einhorn mit pink-gelb-türkisfarbener Mähne und rot-schwarzer Hakenkreuzarmbinde sah, neben ihm eine „White Power“-Wolke, aus der runenförmige „SS“-Blitze fahren – und all das eintätowiert in eine rechte Arschbacke. Die Welt ist wirklich aus den Fugen. Da hilft allenfalls noch ein Blick auf kotzendes-einhorn.de. Sebastian DörflerQQuellen „Ob zwar in der Hl. Schrift des Einhorns oft gedacht wird, so ist doch kein dergleichen erdichtetes Thier, sondern das Nashorn dadurch verstanden worden“: So zweifelte Zedlers Universal-Lexicon um 1750 eine Quelle für den Einhornglauben an. Ein solche Verwechslung ist auch bei anderen Quellen denkbar: Die Einhornerwähnung in Aristoteles’ Naturgeschichte liest sich wie eine Realbeschreibung – war eine Antilope gemeint? Auch andere Zeitgenossen erwähnen das Tier, das in antiken Mythologien aber fehlt. Dafür galoppiert es in Legenden Chinas und Indiens herum. Im Mittelalter wird das Monohorn zum unschuldig-reinen Fabelwesen, zum Christussymbol. Sein Horn in den Schoß der Jungfrau Maria legend: ein beliebtes Motiv christlicher Kunst (➝ Korkenzieher). Für Albert Magnus war die Zähmung des Wildtiers die Menschwerdung Christi. Da ist es verblüffend, wie profan Mystikerin Hildegard von Bingen Einhorn-Medizin verschrieb: „Die pulverisierte Leber ergibt mit Eigelb versehen eine Salbe, die bei regelmäßigem Gebrauch jede Art von Aussatz heilt ... Schuhe aus dem Leder des Einhorns verleihen gesunde Füße, Unterschenkel und Gelenke.“ Tobias PrüwerSStart-ups Vielleicht ist Uber-Chef Travis Kalanick der Johann August Sutter des 21. Jahrhunderts. Vor bald 200 Jahren hatte sich der Deutsch-Schweizer gen US-Westküste aufgemacht, dort Einwohner vertrieben und Land kolonisiert. Seine Scholle wuchs schnell, und als dort einer von Sutters Arbeitern das erste Gold Kaliforniens fand, war das der Beginn des Goldrauschs. Und der der völligen Verarmung Sutters, Tod zweier Söhne inklusive.Heute geht es rund um die Bucht von San Francisco nicht um Nuggets. Sondern um Einhörner. So nennen Investoren Start-ups, deren angeblichen Wert die „Märkte“ auf mehr als eine Milliarde US-Dollar taxieren. Travis Kalanick hat das fabelhafteste Einhorn: Uber, sein Online-Vermittler von Fahrdiensten, ist laut dem Ranking „The Unicorn List“ des US-Wirtschaftsmagazins „Fortune“ 51 Milliarden wert und damit eigentlich schon ein „Decacorn“. In die Top Ten schafft es nicht nur die Silicon-Valley-Hausmacht um Airbnb, Snapchat oder Dropbox, sondern auch der chinesische Smartphone-Hersteller Xiaomi (46 Milliarden) oder die indische E-Commerce-Firma Flipkart (15 Milliarden). Gold gab es ja auch nicht nur in Kalifornien. Wer es schürfte, dessen Traum von bleibenden Werten war so schnell ausgeträumt, wie eine Seifenblase zerplatzt, siehe Johann August Sutter. Sebastian PuschnerVVerwechslung So muss ein Einhorn aussehen, dachte ich als Kind, haargenau so, wie es auf der Deckseite von Des Knaben Wunderhorn abgebildet war. Es trug ein grünes Gesicht, hatte Augen, Nase und einen fröhlichen Mund, Ohren, die wie Lindenblätter aussahen, und es stand auf vier dünnen Beinen. Auf seinem runden Kopf prangten zwei goldene Hörner, wie bei einem Faun von Picasso. Auf dem gelben Fabelwesen hockte ein rothaariger Knabe mit einem Zweig in der Hand.Achim von Arnim und Clemens Brentano veröffentlichten ihre Sammlung alter Liebes-, Soldaten-, Wander- und Kinderlieder in drei Bänden (1805–1808), sie wollten die Reime vor dem Vergessen bewahren. 1966 ist das Werk im Kinderbuchverlag der DDR erschienen, wunderbar illustriert, das Buch wurde ein Renner. Man blätterte gemeinsam bei Kindergeburtstagen darin, verkleidete sich manchmal sogar als Einhorn. „Aber das ist doch ein Füllhorn!“, wollte mich eines Tages ein Erwachsener aufklären. Was für ein Quatsch! Oder hat schon mal jemand ein Füllhorn auf vier Beinen gesehen?Maxi LeinkaufZZauberschulwissen In der magischen Welt des Harry Potter sind selbst Tiere magische Wesen und als solche prüfungsrelevant: Im Schulfach „Pflege magischer Geschöpfe“ lernen wir: Das Fell junger Einhörner ist zunächst golden, dann silbrig, erst ausgewachsen wird das scheue Tier mit dem Pferdekörper weiß wie das Mondlicht. Mit seinem spiralförmigen Horn und seiner strahlenden Schönheit gilt es als Sinnbild von Reinheit. Sein silbernes Blut hat lebenserhaltende Kräfte, mit dem Nebeneffekt, dass jeder, der ein Einhorn tötet, um davon zu trinken, auf ewig verflucht ist. Für Harrys Widersacher, den skrupellosen Lord Voldemort, ist das allerdings irrelevant. So verhilft es ihm dazu, wieder zu Kräften zu gelangen: der Auftakt zu sieben Jahren Kampf des Guten gegen das Böse. Jutta Zeise
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