Wer heute politisch punkten will, muss ein Patentrezept für den Arbeitsmarkt liefern; da dieser jedoch nicht beliebig manipulierbar ist, wird die Arbeitsmarktkrise in eine Sozialstaatskrise umdefiniert. Mit der angekündigten Senkung der Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent hat sich der Kanzler unter Zugzwang gesetzt: Krankenkassenbeiträge von höchstens 13 Prozent (derzeit 14,4) und eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems sollen nicht nur die aktuelle Finanzkrise der Kassen überwinden helfen, sondern auch eine längerfristige Konsolidierung sichern. In der Rürup-Kommission wird noch diskutiert, vom Sachverständigenrat (SVR) im Gesundheitsministerium liegen mittlerweile die ersten Vorschläge vor.
Umstritten ist unter Experten allerdings, ob
Experten allerdings, ob die Betonung der Lohnnebenkosten überhaupt den richtigen Ansatzpunkt darstellt, und nicht vielmehr die Wirtschaftlichkeitsreserven des Systems mobilisiert werden müssten, um Gesundheitsausgaben zu minimieren und gleichzeitig die medizinische Qualität zu steigern. Uneinig waren sich unsere Gesprächspartner auch über die Rolle des geplanten Vertragswettbewerbs: Ist das Vertragsmodell zwischen Ärzten und Krankenkassen geeignet, die medizinische Versorgung zu verbessern? Haben die Kassen überhaupt ein Interesse an Qualität oder werden sie die Ärzte nicht unter Kostendruck setzen? Heftige Kritik entzündete sich auch an der geplanten Durchlässigkeit zwischen stationärem und ambulantem System. Die Kassenärztlichen Vereinigungen fürchten Konkurrenznachteile für die niedergelassenen Ärzte, die Befürworter erhoffen Vorteile für die Kassenpatienten. Welche Rolle überhaupt die Versicherten im künftigen System spielen werden, ist ungewiss: Bleiben sie die Milchkuh der medizinischen Dienstleister oder werden sie gleichberechtigte Partner, die Anspruch auf Transparenz und möglichst gute Versorgung haben? Das Ministerium plant ein Zentrum für Qualität in der Medizin, eine Art Stiftung Warentest für den Gesundheitssektor. Viele Ärztevertreter sehen hierin den Beginn einer »Staatsmedizin« und beklagen die Geldverschwendung. Kann ein solches Institut tatsächlich Qualität sichern und steigern und wer garantiert im medizinischen Interessendickicht seine Unabhängigkeit? Ob schließlich auch diese Reform nur zu Lasten der Versicherten geht, die neue private Pflichtversicherungen, höhere Zuzahlungen und Leistungskürzungen fürchten müssen, ist noch nicht abzusehen. Unser Gespräch vermittelt einen Eindruck davon, wie viele Hürden und Interessenkonflikte zu überwinden sind, wenn aus diesem »Jahrhundertprojekt« tatsächlich ein gestärkter Patient hervorgehen soll.FREITAG: Wir werden jeden Tag mit neuen Meldungen darüber beglückt, was künftig nicht mehr durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) abgedeckt werden soll: Es ist die Rede von Freizeitunfällen, von der Zahnbehandlung, und die Rürup-Kommission will jetzt noch die Pflegeversicherung kippen. Werden wir, nachdem schon die medikamentöse Versorgung für sogenannte Bagatellkrankheiten gestrichen wurde, in Zukunft fürchten müssen, für jeden »Kollateralschaden des Lebens« eine private Zusatzversicherung abschließen zu müssen? LAUTERBACH: Es handelt sich ja um keine offiziellen Vorschläge der Rürup-Kommission, das gilt auch für die private Absicherung der Zahnbehandlung. Ich selbst schließe mich in diesem speziellen Punkt Ministerin Schmidt an. Wenn die Zähne privat versichert werden, steigen in der Regel galoppartig die Preise. Jetzt sind ja die Preise bei der Zahnbehandlung an die Gebührenordnung der Gesetzlichen Krankenversicherung gekoppelt. Wenn diese Preiskoppelung wegfiele, müssen wir nicht nur mit einer Verlagerung der Kosten auf den Einzelnen rechnen, sondern zusätzlich mit einer enormen Preisdynamik. Andere Vorschläge, die Sie gebracht haben will ich nicht kommentieren, denn die Arbeit in der Rürup-Kommission sollte erst wenn sie fertig ist der Öffentlichkeit vorgestellt werden.FREITAG: Der Sachverständigenrat (SVR) im Gesundheitsministerium hat auch einige Vorschläge gemacht. So war zum Beispiel zu lesen, dass zukünftig das Krankengeld der Reform zum Opfer fällt. Müssen wir uns zukünftig auch gegen Lohnausfälle versichern? LAUTERBACH: Wir haben als Sachverständigenrat nur eine Liste mit möglichen Ausgliederungen und keine konkreten Vorschläge zur Streichung gemacht. Das Hauptproblem der Finanzierung im Moment ist neben der zu erwartenden demographischen Herausforderung, dass derzeit die gesamte Finanzierung der GKV auf den Löhnen lastet. Es gibt zwei Möglichkeiten das zu ändern: Entweder man bleibt bei der paritätischen beitragsorientierten Finanzierung und es werden andere Einkommensarten zusätzlich berücksichtigt sowie bestimmte Leistungen über private Versicherungen und über die Steuer finanziert. Oder man geht zu einem Kopfpauschalen-Modell über, bei dem jeder den gleichen Beitrag bezahlt und die einkommensschwachen Gruppen einen steuerfinanzierten Zuschuss erhalten. Auch dieses Modell bringt andere Einkommen ins Spiel. Ich glaube, es ist Konsens, dass die alleinige Finanzierung über die Löhne nicht zukunftsfähig ist, weil die Lohnquote in der Gesellschaft zurückgeht.GERLINGER: Wobei die Privatisierung von Versicherungsleistungen darauf hinauslaufen würde, das Gesamtvolumen des paritätisch finanzierten Leistungspaktes zu reduzieren. Es liegt ohne Frage im politischen Trend, die Lohnkosten zu entlasten und in diesem Zusammenhang auch die Arbeitgeberbeiträge zur GKV zu senken. Aber ist das wirklich so dringend notwendig? Das Arbeitsplatzargument zieht hier kaum. Die deutsche Wirtschaft ist auf dem Weltmarkt außerordentlich erfolgreich. Außerdem schaffen Ausgaben für das Gesundheitswesen je investiertem Euro mehr Arbeitsplätze als in den meisten anderen Wirtschaftsbereichen. Den Rückgang der Lohnquote könnte man auch durch die Einführung von Bundeszuschüssen oder durch eine Erweiterung des Mitgliederkreises der GKV kompensieren.FREITAG: Herr Lauterbach, Sie haben vor circa vier Monaten vor Gewerkschaftern gesagt, dass das Problem der Lohnnebenkosten in Deutschland viel zu stark akzentuiert wird. Sind Sie von dieser Meinung abgerückt? LAUTERBACH: Nein, keineswegs. Die Rürup-Kommission beschäftigt sich mit der Finanzierung des Gesundheitssystems über die nächsten 30 möglicherweise 50 Jahre. Es ist eine große Finanzierungsreform geplant, und die Aufgaben, die vor uns stehen, sind klar umrissen: Wir werden im Jahr 2030 wahrscheinlich zusätzliche sieben Millionen Rentner haben. Es werden gleichzeitig etwa sieben Millionen Erwerbstätige fehlen. Es ist, wie Herr Gerlinger sagt, zwar richtig, dass wir kurzfristig auch in Anbetracht der hohen Effizienzreserven, die es gibt, die bestehenden Finanzierungsprobleme lösen könnten. Auch sind die Lohnnebenkosten tatsächlich etwas überakzentuiert, sie sind in den letzten Jahren anteilig des Bruttoinlandsproduktes sogar etwas gesunken. Aber trotzdem führt nichts an der Tatsache vorbei, dass wir mit diesem System, wenn wir es nicht verändern, langfristig erhebliche Probleme haben werden.FREITAG: Die Tendenz geht in Richtung Wettbewerbsförderung, auch für die Ärzte. Geplant ist, das Zulassungssystem zugunsten des sogenannten Vertragsmodells abzuschaffen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) sehen die Entwicklung skeptisch. BRATZKE: Das so genannte Einkaufsmodell über Einzelverträge heißt, dass der einzelne Facharzt in der eigenen Praxis im Prinzip abgeschafft wird. Er wird keine Möglichkeit mehr haben, seine Praxis zu führen, weil er nicht in die Zukunft investieren kann. Er kann nicht einmal mehr seine Praxis verkaufen, weil nicht sicher ist, ob der Nachfolger überhaupt einen Vertrag bekommt. In diesen Zukunftsszenarien wird die fachärztliche Versorgung ausschließlich an Kliniken und Klinikambulanzen stattfinden. Dabei muss man sehen, dass die Krankenhäuser fachärztliche Leistungen anbieten, aber keinen Facharztstandard. Kliniken sind Ausbildungsstätten, in der Regel hat der dort tätige Arzt keine Facharztanerkennung, sondern ist Auszubildender. Diesen schlechten Standard sollte man dem Patienten nicht zumuten. Der Vorteil des Facharztes um die Ecke, der sozusagen hausärztliche Facharztmedizin macht, ist einzigartig in Deutschland und sollte erhalten werden.FREITAG: Herr Lauterbach, Sie stimmen dem offenbar nicht zu? LAUTERBACH: Die Situation ist doch die: Wir haben jetzt in mancher Hinsicht eine Zwei-Klassen-Medizin. Die Wahrheit ist, dass viele von den Spezialisten insbesondere für seltenere Erkrankungen im Krankenhaus tätig sind. Wo arbeiten denn die Lymphom-Spezialisten? Oder die Spezialisten für genetische Erkrankungen? Fast immer im Krankenhaus. Haben Sie eine schwere oder seltene Erkrankung und brauchen den besten Facharztstandard, dann sind die Spezialisten für die ambulante Versorgung meist nur für Privatpatienten zugänglich. Das ist kein gerechtes System. Darüber hinaus ist es auch nicht einmal im Ansatz korrekt, dass die jetzt geplante Öffnung den niedergelassenen Einzelfacharzt verdrängen würde. Eine sogenannte Hollandisierung des Systems wo es Fachärzte nur in der Klinik gibt, wird es bei uns nicht geben. Wenn es für Fachärzte im Krankenhaus wie auch für niedergelassene Ärzte einheitliche Honorare gibt, dann werden die Fachärzte, die eher hausärztliche Tätigkeiten verrichten, in der ambulanten Praxis bleiben und die Fachärzte, die sehr hoch spezialisierte und technikaufwändige Leistungen erbringen - wie z. B. Herzkatheder-Spezialisten oder Spezialisten für Krebs-Erkrankungen -, eher im Krankenhaus zu finden sein.BRATZKE: Dass ein Kassenpatient zu einem hochspezialisierten Arzt keinen Zugang findet, stimmt einfach nicht. Es sind praktisch alle Spezialisten für ihr Fach zur ambulanten Einzelversorgung ermächtigt, selbst dort, wo dann unnötige Doppelstrukturen entstehen. Dieses System der Ermächtigung ist eher viel zu umfangreich, weil es Geld unnötig abzieht, damit sich der eine oder andere Krankenhaus-Chef sehr ungeniert die Taschen füllen kann. Wir hatten beispielsweise in Berlin 30 Prozent der Gesamtausgaben für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie bei einem einzigen ermächtigten Chefarzt. Das zerstört das System. Es ist ein Problem, wenn Fachärzte an Konzerne bzw. an die Krankenhäuser verkauft werden: Einzelverträge heißt Willkür.FREITAG: Unsere Frage zielte darauf ab, dass die Krankenkassen zukünftig Einzelverträge mit den niedergelassenen Ärzten machen können. Werden dadurch die Kassenärztlichen Vereinigungen, die bisher die Versorgung sichern, nicht überflüssig? BRATZKE: Ja. Es ist sicherlich auch Ziel hinter den Einzelverträgen, die geschlossene und gleichmäßige Versorgung abzuschaffen.GERLINGER: Zumindest würden die KVen einen empfindlichen Machtverlust erleiden. Dies müsste man auch nicht bedauern, denn sie haben den Sicherstellungsauftrag und ihr Vertragsmonopol in der Vergangenheit dazu genutzt, die Interessen von Kassenärzten durchzusetzen. Und sie haben zu diesem Zweck auch Innovationen blockiert, die versorgungspolitisch sinnvoll gewesen wären, nicht zuletzt eine Integration der Versorgungsstrukturen. Ein Teil, und zwar ein nicht unerheblicher Teil der Verantwortung für Qualitätsmängel und Ineffizienz des Systems liegt daher auch bei ihnen.FREITAG: Professor Fritz Beske vom Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel äußerte Bedenken zum Abschluss von Einzelverträgen. Er sieht einen Systembruch, die eventuelle Auflösung der Gesetzlichen Krankenversicherung und eine Umwandlung in ein rein marktwirtschaftlich orientiertes Gesundheitswesen. Sehen Sie nicht dieses Problem, Herr Lauterbach? LAUTERBACH: Ich kann die Sorgen von Herrn Beske beim besten Willen nicht nachvollziehen. Einen Einheitsvertrag - also ein Modell, bei dem alle Ärzte, unabhängig von der Qualität und ohne Qualitätskontrolle von außen, einen Vertrag zu einheitlichen Konditionen bekommen - gibt es in dieser Form sonst nirgends in Europa. Wenn die Abkehr von diesem Einheitsvertrag bedenklich wäre, dann müssten wir in ganz Europa Probleme haben. Bei Hausärzten sollten auch in Zukunft die Kassen den Vertragszwang außer bei Qualitätsproblemen weiter erfüllen müssen. Für Fachärzte sollte es anders sein. Einzelverträge würden wettbewerbsfördernd wirken, so dass manche Fachärzte in überversorgten Regionen aus Wirtschaftlichkeits- oder Qualitätsgründen keinen Vertrag bekommen würden. Diese Ärzte würden dann entweder ihre Wirtschaftlichkeit und Qualität aufwerten oder - bei gleichzeitiger Qualitätsverbesserung - ihren Praxissitz in eine unterversorgte Region verlagern. Somit würde die flächendeckende Versorgung durch Einzelverträge sogar verbessert.BRATZKE: Darin sehe ich keinen Sinn, denn ein Vertragsarzt, der in einem überversorgten Gebiet praktiziert, ginge trotzdem pleite, weil die Zahl der Patienten gar nicht ausreicht, um ihn am Leben zu erhalten. Wir können ja keine Patienten produzieren. Es ist eine Schimäre, dass ein niedergelassener Arzt seinen Zulauf selbst produziert.LAUTERBACH: Er kann doch die Leistungen ausweiten.BRATZKE: Dazu muss aber erst einmal ein Kranker da sein. In die unterversorgten Gebiete geht man nicht hin, weil dort nicht genug Kranke vorhanden sind, um die Existenz zu sichern, und da nützen Einzelverträge auch nichts.FREITAG: Wenn wir das richtig verstanden haben, geht es der Kommission darum, dass durch den Vertragswettbewerb vor allem die Qualität, die in Deutschland eher mittelmäßig ist, gesteigert wird. Wie soll das kontrolliert werden, und haben die Kassen dann nicht einen Hebel in der Hand, mit dem sie die Ärzte unter Preisdruck setzen könnten? LAUTERBACH: Die externe Qualitätskontrolle allein hat sich nicht durchgesetzt, weil sie sich auf die Wenigen konzentriert, die so schlecht praktizieren, dass sie auch den Einheitsvertrag verlieren. Das kommt in der Praxis übrigens fast nie vor. Der Einzelvertrag dagegen führt dazu, dass das durchschnittliche Niveau steigt, weil die Ärzte, die gute Qualität bieten, bessere Vertragsbedingungen bekommen. Was für einen Sinn macht es, wenn ein Arzt über gute Qualität nicht besser verdienen kann als der, der auf minimalem Niveau eine bedenkliche Versorgung bereitstellt? Momentan haben wir das Problem, dass ein Patient in der Regel nicht überprüfen kann, auf welchem Niveau ein Arzt praktiziert. Die Krankenkasse erfährt es nicht, weil sie die Daten nicht bekommt. Und die Krankenkassenärztliche Vereinigung greift in so einem Fall typischer Weise nicht ein. Bei einem System der Einzelverträge würde die Krankenkasse diesem Arzt die Möglichkeit geben, sich entweder qualitativ dem wissenschaftlich gesicherten Standard anzupassen, oder er würde den Vertrag einbüßen.BRATZKE: Alles, was Sie zu den Einzelverträgen sagen, unterstellt, dass eine Krankenkasse irgend ein Interesse an Qualität hätte. Das kann ich nicht erkennen. Das einzige Interesse, was die Krankenkassen haben, ist Geld zu sparen.LAUTERBACH: Nein! So einseitig können Sie doch die Krankenkassen nicht sehen. Wenn Sie das glauben, müssen Sie auch konsequent sein und sagen: Ich fordere die Einheitsversicherung. Wenn es den Kassen sowieso nur ums Sparen geht, wozu brauchen wir dann noch so viele Krankenkassen?GERLINGER: Nun hat aber die gegenwärtige Wettbewerbsordnung in der GKV schon dazu geführt, dass die Kassen ihre Konkurrenz nur - fast nur - über den Beitragssatz austragen. Damit hat man starke finanzielle Anreize geschaffen, die das Denken und Handeln dieser Organisationen bestimmen, denn schließlich geht es um ihre Existenz. Die Kassen reagieren darauf vor allem mit Versuchen zur Risikoselektion und weniger mit Bemühungen um Qualitätsverbesserungen. Außerdem: Herr Lauterbach hat gesagt, externe Qualitätssicherung habe sich nicht durchgesetzt, und er setzt deshalb auf Wettbewerb. Externe Qualitätssicherung hat ohne Zweifel ihre Grenzen, aber sie wird bei einem Wettbewerb um Mitglieder und Verträge notwendiger sein denn je, denn man wird unter solchen Bedingungen ja wohl nicht der Selbstauskunft von Ärzten - und auch nicht der von Kassen - glauben schenken wollen.LAUTERBACH: Eine alleinige externe Qualitätssicherung führt zur Orientierung an den Schlechtesten im System. Wir brauchen aber ein System, das die Qualität systematisch verbessert. Wettbewerb kann da mehr leisten als Kontrolle, Wettbewerb schafft es, Qualität nach vorn zu ziehen. Derzeit betreiben die Kassen Risikoselektionswettbewerb. Stünde in Zukunft eine Kasse im Ruf, ihr käme es nur auf die Kosten an, und eine andere Kasse würde sich mehr in Richtung Qualität orientieren, dann würde die Kasse, die sich für die »billigste Lösung« entschieden hat, aus dem Wettbewerb ausscheiden. Bei zunehmender Transparenz, bei zunehmendem Interesse der Versicherten an der Qualität könnte doch keine Kasse überleben, wenn sie im Ruf stünde, ihr ginge es nur ums Geld.GERLINGER: Da setzen Sie aber eine Patientensouveränität voraus, die in der gesundheitspolitischen Realität so nicht existiert.FREITAG: Wer also legt fest, was ein guter Arzt ist? Und andererseits, welche Anreize könnte man für Ärzte schaffen, sich in diese Richtung zu bewegen? Das ist ja das Ziel dieser Gesundheitsreform. LAUTERBACH: Hätten wir ein auf Qualität orientiertes Kassenwettbewerbssystem, würden Sie natürlich darauf vertrauen, dass Ihre Krankenkasse nur mit den besten Ärzten einen Vertrag macht.FREITAG: Sucht man die Ärzte dann nach den Krankenkassen aus oder die Krankenkasse nach den Ärzten? LAUTERBACH: In einem Wettbewerb geht natürlich beides. Aber wichtig ist ja, dass in dem Moment, wo die Krankenkassen qualitativ besser praktizierenden Ärzten auch bessere Verträge anbieten können, das durchschnittliche Qualitätsniveau der Ärzteschaft insgesamt steigt. Dann lohnt es sich wie für jeden anderen Freiberufler.BRATZKE: Das ist es ja, was wir fordern, dass nämlich jeder, der diese Qualitätsvoraussetzungen erfüllt, einen Vertrag erhält. Das aber ist nicht vorgesehen.LAUTERBACH: Auch wenn es eine massive Überkapazität in der Stadt gibt?BRATZKE: Ja. Nur dadurch hat ein Arzt überhaupt die Möglichkeit zu investieren. Man kann doch nicht in Qualität investieren, wenn man nicht sicher sein kann, ob man dafür überhaupt einen Vertrag bekommt. Erwarten Sie etwa, dass sich jemand zum Beispiel eine Waschmaschine für endoskopische Geräte, die 30.000 Euro kostet, anschafft, ohne Aussicht auf einen Vertrag? Da denkt der Arzt betriebswirtschaftlich und sagt, ohne Sicherheit kann ich mir das nicht leisten.GERLINGER: Mir kommt es so vor, als ob Herr Lauterbach das Handlungskalkül von Kassen ein wenig idealisiert. Ich kann mir vorstellen, dass eine regionalisierte Einheitsversicherung oder ein anderer öffentlicher Träger Leistungen nach derartigen Qualitätskriterien einkauft. Aber die gesundheitspolitische Realität ist doch eine andere. Die Kassen unterliegen im Wettbewerb starken Anreizen Kosten einzusparen, und sie werden für dieses Ziel eventuell Qualitätseinbußen in Kauf nehmen. Gleichzeitig können alle Beteiligten auf vielfältige Weise Informationen über Versorgungsstandards manipulieren. Ein Vertragswettbewerb wird überhaupt nur dann praktikabel sein, wenn man ihn mit eindeutigen Vorgaben für die Qualität von Leistungen verbindet. FREITAG: Also noch einmal die Frage: Wie sollen die Patienten kompetent gemacht werden? Sie müssen sich über Spezialleistungen informieren können, über bestimmte Qualitätszertifikate und ähnliches. Wer würde denn allein seiner Kasse vertrauen? LAUTERBACH: Um es noch einmal deutlich zu sagen: Entweder wir entwickeln den Kassenwettbewerb in Richtung Qualitätswettbewerb weiter, dann muss es aber auch Einzelverträge geben dürfen. Oder wir führen den Kassenwettbewerb ganz zurück. Denn der jetzige Wettbewerb ist unsinnig. Natürlich müsste bei zunehmendem Wettbewerb der Patient deutlich gestärkt werden. Zentrale Voraussetzung dafür ist ein Zentrum für Qualität in der Medizin, das alle Informationen zu den wichtigsten Erkrankungen zusammenträgt und transparent macht, wie gute und schlechte Qualität erkennbar ist, wie eine Krankheit typischerweise behandelt wird. Dieses Zentrum müsste so ähnlich wie die National Institutes of Health in den Vereinigten Staaten dem Verbraucher zur Verfügung stehen.Wenn also z.B. der Patient eine Prostata-Krebsoperation vor sich hat, muss er dort fragen können: Wonach soll ich fragen, wenn ich mir das Krankenhaus aussuche? Wie wird typischerweise Prostatakrebs behandelt, was sind die Behandlungsalternativen, welche Studien haben das gezeigt? Diese Information muss für alle Versicherten von neutraler Stelle und mit hoher Qualität zur Verfügung gestellt werden. Bei Prostatakrebs zum Beispiel würde dann empfohlen, dass eine Klinik den Eingriff mindestens 50 Mal pro Jahr gemacht haben muss.FREITAG: Das würde aber die Kliniken unter Druck setzen, sich zu spezialisieren. LAUTERBACH: Das ist aus meiner Sicht auch unbedingt notwendig. Genauso wie wir mehr Spezialisierung in der ambulanten Medizin benötigen.BRATZKE: Leider wird sich nicht jeder Patient die gute Klinik aussuchen können. Gerade weil es dort Qualitätsstandards und Rankings gibt, werden Leute mit hohen Operationsrisiken gar nicht erst aufgenommen. Jemand mit 30 Kilo Übergewicht hat in einer guten orthopädischen Klinik schlichtweg keine Chance, aufgenommen zu werden.LAUTERBACH: Wir sind hier aber nicht in Amerika.BRATZKE: Doch das Qualitätsranking führt genau dazu, dass Patienten abgewiesen werden. Das ist heute schon so. Ich bekomme doch in den Berliner Kliniken keinen über 70-Jährigen unter.LAUTERBACH: In Köln ist das anders. In Köln werden auch über 70-Jährigen beispielsweise künstliche Hüftgelenke eingesetzt. Das ist richtig und soll auch so bleiben.FREITAG: Warum, Herr Bratzke, weigern sich die Ärzte, sich von einem neutralen Institut zertifizieren zu lassen? BRATZKE: Wenn es ein Institut gäbe, das in irgend einer Art Qualität messen könnte, gut, aber wir sehen überhaupt kein System, das dies leisten könnte. Die Qualität misst der Patient. Eine gute Praxis ist knüppeldicke voll. Und eine schlechte Praxis ist leerer.[Heiterkeit]LAUTERBACH: Leider ist es so, dass Ärzte, die sich für ihre Patienten genügend Zeit lassen, oft die größten wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben. Derweil ein Arzt, der - ich sage es mal so - Voodoo-Medizin praktiziert, häufig überlaufen ist.BRATZKE: Wenn der Patient etwas will, was aus ärztlicher Sicht Voodoo-Medizin ist, dann bekommt er das heute auch. Nun steht im Rohentwurf für ein Gesetz zur Modernisierung des Gesundheitssystems, dass dem Hausarzt künftig der Bereich der nichtqualifizierten Medizin offen steht und er sie anbieten kann. Dort gibt es dann keine Qualitätssicherheit mehr. Wenn Qualitätssicherung aber nur für Fachärzte gilt, ist das eine erschreckende Entwicklung.FREITAG: Herr Bratzke, Ihr Kollege Richter-Reichhelm von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung lehnt das geplante Institut mit der Begründung ab, Gesundheit sei ein viel zu wertvolles Gut, als dass sie nach den Kriterien der Stiftung Warentest ausgesucht werden könne. Teilen Sie seine Meinung? BRATZKE: Ja. Ein solches Institut ist herausgeschmissenes Geld. Ich glaube nicht, dass es in irgend einer Form zeitnah zur Qualitätssicherung beitragen kann. Ehe eine große Verwaltung zu aktuellen Fragen wirklich vernünftige Empfehlungen geben kann, sind die doch schon wieder veraltet. Ich halte es schlichtweg für die falsche Methode der Qualitätssicherung. Behandlungserfolg ist ganz schlecht messbar.LAUTERBACH: Das Institut soll ja nicht Behandlungserfolge messen, sondern es soll Transparenz schaffen. Hier kann sich der einfache Versicherte, der Patient, der Journalist, der Abgeordnete informieren, wie eine Krankheit wissenschaftlich gesichert typischerweise behandelt wird. In laienverständlicher Sprache erfährt er wie man gute und nicht so gute Qualität unterscheiden kann. Auch die Ärzteschaft müsste ein Interesse daran haben, dass viele Missverständnisse und Fehler in der Einschätzung der ärztlichen Tätigkeit ausgeräumt werden. Das hat weder mit Staatsmedizin, noch mit externer Qualitätssicherung oder mit Beschleunigung oder Entschleunigung von Innovationen zu tun. Die Ärzteschaft verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie meint, ein solches Informationsinteresse abwehren zu können. Es wirft in der Öffentlichkeit Fragen auf, weshalb sich gerade an diesem Punkt die Ärzteschaft gegen das Interesse der Bürger, mehr über die Medizin zu erfahren, so vehement wehrt.GERLINGER: Ich denke, dass ein solches Institut vor allem deshalb sinnvoll ist, weil es Qualität unabhängiger von Partikularinteressen definieren und sichern kann als gegenwärtig. Wie unabhängig, das wird man sehen. Allerdings sollte man die Erwartungen, die man an dieses Institut richtet, auch nicht überfrachten. Qualitätssicherung hängt entscheidend von der Akzeptanz durch die Leistungserbringer ab.FREITAG: Wie soll gewährleistet werden, dass ein solches Institut unabhängig beispielsweise von der Pharmaindustrie bleibt? LAUTERBACH: Die Trägerschaft muss unabhängig von Fremdfinanzierungen durch die Industrie oder Dritte sein, das heißt es muss über den Staatshaushalt und vielleicht Kassenbeiträge finanziert werden. Weiterhin muss ein Kuratorium für die Inhalte bürgen und die Geschäftsführung überwachen. Die Geschäftsführer müssen offen legen, ob sie irgendwelche Nebeneinkünfte durch Firmen, Beratungsverträge und dergleichen haben. Die Empfehlungen, die erstellt werden, müssen über Ausschreibungen generiert werden, an denen sich niemand beteiligen darf, der versteckte Interessenskonflikte hat. Die Empfehlungen werden nach den Standardkriterien der sogenannten evidenzbasierten Medizin entwickelt. Ein solcher Prozess kann nie perfekt funktionieren, und es besteht immer die Gefahr, dass Einzelne, die an diesem Prozess beteiligt sind, bestochen werden. Aber das wird die Ausnahme sein und stellt nicht das Gesamtanliegen in Frage.FREITAG: Glauben Sie, dass das jetzige System der Gesetzlichen Krankenversicherung auf Dauer Zukunft haben wird oder werden wir uns doch mehr auf private Versicherungen einstellen müssen? BRATZKE: Ich halte das jetzige System für das sinnvollste und das beste, weil es jedem die gleiche Qualität der Versorgung sichert. Ich sehe mit großen Ängsten die Versuche, einzelne Leistungen auszusteuern und aus einem anderen Topf zu zahlen. Die Belastung für den Bürger bleibt die gleiche. Über die Ausgliederung von Leistungen muss man allerdings nachdenken. Ist Lohnfortzahlung Aufgabe einer Krankenversicherung? Ist die Behandlung von Fertilitäts-Störungen Aufgabe einer Krankenversicherung? Aufhören muss auch der Verschiebebahnhof in der Sozialversicherung, wir hätten heute wohl kein Finanzierungsproblem, wenn nicht dieses Hin- und Herschieben zwischen Renten-, Arbeitslosenversicherung und den Gesetzlichen Krankenkassen stattgefunden hätte.GERLINGER: Auch ich halte das gegenwärtige System im Grundsatz für zukunftsfähig. Die Effekte des demographischen Wandels sind zwar ernst zu nehmen, aber sie werden sich nicht so stark auf die Ausgabenentwicklung in der GKV auswirken, wie derzeit unterstellt wird. Allerdings dürfte sich an der Einnahmenschwäche der GKV in der nahen Zukunft wenig ändern. Ich denke daher, dass man die jetzige Finanzierungsbasis stärker um Steuermittel ergänzen und den Kreis der Pflichtmitglieder in der GKV erweitern sollte. Eine andere Frage ist, was ich glaube, was passieren wird: Mir scheinen die Vorzeichen sehr stark darauf gerichtet zu sein, die Finanzierung von Leistungen zu privatisieren. Ich sehe zwar, dass die Ministerin sich in der Öffentlichkeit zu einem solidarisch finanzierten, umfassenden Leistungskatalog bekennt, aber es gibt auch in den Regierungsparteien viele Stimmen, die das in Frage stellen.LAUTERBACH: Ich halte das für zu pessimistisch. Wir haben im Sachverständigenrat von einem System der Kapitaldeckung und von einem Kopfpauschalen-Modell ebenso abgeraten wie von einem steuerfinanzierten System. Wir halten das paritätische System für zukunftsfähig, wenn man die Einnahmebasis dieses Systems etwas breiter gestalten kann. Ich rechne somit persönlich mit einer Stärkung der Gesetzlichen Krankenversicherung und nicht mit einer Schwächung, wenn andere Einkommensarten in die Finanzierung der Gesetzlichen Kassen einbezogen werden und einzelne Leistungsbereiche privat oder über Steuern abgesichert werden.GERLINGER: Das Bekenntnis zur Parität wird dann aber zu einer Leerformel, denn die Kosten zu privatisieren bedeutet, dass sie sich auf ein immer schmaleres Segment des Leistungsgeschehens bezieht. Und überhaupt: Wieso sehen Sie die Notwendigkeit, dem System noch mehr Geld zuzuführen?LAUTERBACH: Es soll ja nicht mehr Geld zugeführt, sondern die Beitragssätze gesenkt werden. Die Umfinanzierung versicherungsfremder Leistungen über Steuern und eines Teils der Leistungen über Miet- und Zinseinkünfte soll helfen, die Beitragssätze unter zwölf Prozent zu senken.GERLINGER: Dann sollte man aber auch nicht verschweigen, dass dafür auch Steuern erhöht werden müssen.LAUTERBACH: Das ist selbstverständlich.Das Gespräch moderierten Ulrike Baureithel und Connie UschtrinGKV: Gesetzliche KrankenversicherungSachverständigenrat: Der »Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen« (SVR) erstellt im Auftrag des Gesundheitsministeriums alle zwei Jahre ein Gutachten zur Versorgung und Wirtschaftlichkeit der GKV. In seinem neuen Gutachten vom 24. Februar unterbreitet der SVR Vorschläge zur künftigen Finanzierung und Qualitätsverbesserung.Kopfpauschalen-Modell: Beiträge zur Krankenversicherung werden nicht abhängig vom Einkommen, sondern pauschal bezahlt. Ein solches System gibt es in der Schweiz.Parität: Die Beiträge zur GKV werden zu gleichen Teilen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert. Lohnquote: Anteil von Löhnen und Gehältern am Volkseinkommen. Einheitsvertrag: Derzeit haben alle niedergelassenen Ärzte den gleichen Vertrag mit den Kassenärztlichen Vereinigungen. Dieses Modell soll zugunsten von Einzelverträgen aufgelöst werden.Einzelvertrag (geplant): Die Krankenkassen können mit einzelnen Ärzten individuelle Verträge abschließen. Ambulante Versorgung: Ambulante und stationäre Versorgung sind zur Zeit strikt getrennt. Zukünftig sollen beispielsweise Krankenhausärzte auch ambulant behandeln können. Ermächtigung: Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) können einzelnen Ärzten in unterversorgten Gebieten eine besondere Befugnis zur fachärztlichen Behandlung erteilen. Einheitskasse: In Deutschland gibt es derzeit über 350 (1991: 1200) Gesetzliche Krankenkassen. Eine Einheitskasse würde Verwaltungskosten einsparen und hätte den Charakter einer zentralen staatlichen Krankenkasse.Risikoselektionswettbewerb: Derzeit konkurrieren Kassen v.a. mit niedrigen Beitragssätzen um Versicherte, die kein hohes Krankheitsrisiko aufweisen, i.d.R. jung sind und gut verdienen.Qualitätssicherung: Momentan ist es Aufgabe der KVen, Qualität in der ambulanten Versorgung zu sichern. Qualität wird weitgehend innerhalb der ärztlichen Selbstverwaltung gesichert und bewegt sich auf der Ebene von Empfehlungen und Richtlinien. Es gibt Vorschläge, Qualität zukünftig durch unabhängige Institutionen sichern zu lassen.
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