„Einmal frei Luft geholt“

Interview Bärbel Bohley wollte nicht in den Westen, sondern die DDR verändern
Ausgabe 41/2019

Ende Oktober ’89 können die Medien der DDR relativ frei über ihre Inhalte entscheiden. Im Wochenblatt Sonntag – aus dem später der Freitag hervorging – spricht Bärbel Bohley, eine prägende Gestalt der Bürgerrechtsbewegung, über die Opposition, Skins und das Versagen der SED. Das Gespräch erschien Ende November 1989.

Sonntag: Fangen wir an, wo wir aufgehört haben. In einem Gespräch mit dem „Sonntag“ sagten Sie 1980, dass Sie weiter meckern, aber auch mitarbeiten wollten. Was hat sich seit damals getan?

Bärbel Bohley: Ich war fünf Jahre in der Sektionsleitung des Verbandes Bildender Künstler und habe die Erfahrung machen müssen, an einer Stelle zu sitzen, wo ich von unten Dresche bekam und eigentlich keine Entscheidungen fällen konnte, weil sie letzten Endes ganz woanders getroffen wurden. Ein Beispiel, die Reiseregelungen. Die Kollegen stellten einen Antrag auf eine Westreise, und die Sektionsleitung musste ihn genehmigen. Dieser ging dann aber zum Kulturministerium, zum Ministerium des Innern, zur Staatssicherheit. Wir waren die erste Instanz und haben uns herumgestritten, ob der Kollege fahren darf oder nicht. Es war eine Scheindiskussion, da völlig klar war, wir sind sowieso nicht dafür verantwortlich. Letzten Endes fällte die Staatssicherheit die Entscheidung. ’82 bin ich rausgeflogen aus der Sektionsleitung, weil ich eine Eingabe zum Wehrdienstgesetz gemacht habe, wonach Frauen zur Mobilmachung eingezogen werden können. Alle Welt sprach von Frieden, alle hatten Angst vor der Nachrüstung, aber wenn man persönlich die Initiative ergriff, hatte es zum Beispiel solche Folgen.

Haben Sie versucht, in den bestehenden Strukturen trotzdem weiterzuarbeiten?

Die sind einfach unbrauchbar. Weil sie zumeist von Leuten besetzt sind, die keinen Mut haben, kein Risiko auf sich nehmen. Sie sind festgefahren, Entscheidungen können immer nur von bestimmten Leuten getroffen werden. Diese Strukturen sind tot und können nur in Konkurrenz zu neuen wiederbelebt werden. Ein unabhängiger Studentenverband etwa könnte sozusagen die FDJ zwingen, lebendiger zu werden.

Welche persönlichen Konsequenzen haben Sie aus Ihrer Erfahrung des Versagens dieser Strukturen gezogen?

Meine Konsequenz ist einfach, dass es eine legale Opposition geben muss. Und die darf nicht immer als Marionette und vom Westen gesteuert denunziert werden. Es muss zugelassen werden, dass über den Weg zu einem ganz bestimmten Ziel gestritten werden kann. Das war nicht möglich. Ein Ziel stand immer im Raum: Wir bauen hier den Sozialismus auf. Der Weg dorthin wurde festgeschrieben. Jeder, der diesen Weg hinterfragt hat, ist zum Staatsfeind gemacht worden.

Da wir beim Begriff Opposition sind, was verstehen Sie darunter?

Das ist ja klar: Gegen diesen bestimmten Weg zu sein, gegen das bestimmte Ziel oder gegen eine bestimmte Art und Weise, wie mit Menschen umgegangen wird.

Wogegen konkret? Aus den Erfahrungen von Foren und Demonstrationen der letzten Tage sehen wir eine Gefahr: dass mit einer Pauschalität gegen irgendetwas vorgegangen wird. Irgendetwas – die Adresse, die Namen, die Dinge sind unbestimmt ...

Das ist für mich eine Frucht von 40 Jahren DDR-Geschichte. 40 Jahre haben unmündige Menschen hervorgebracht. Sie sind mit der Lüge groß geworden. Das muss man einfach sagen: Jede Zeitung hier hat bewusst gelogen, jeder wusste es, aber hat es trotzdem akzeptiert. Wenn jetzt alles in Pauschalitäten untergeht, halte ich das erst einmal für normal. Das ist wie bei einem Kind, das sich losreißt von den Eltern. Das opponiert erst mal gegen alles, bei dieser Selbstfindung. Bis daraus ein konstruktiver Dialog wird, das dauert. Der findet aber auch von der anderen Seite nicht statt. Nicht nur die Kritik ist substanzlos, auch die Selbstkritik ist unterentwickelt.

Es gibt natürlich in dieser Situation mehr oder weniger politische Verantwortliche. Das Komische aber ist: Die DDR besteht momentan zu 95 Prozent aus Leuten, die „schon immer im Untergrund gekämpft“, die es schon immer gewusst haben. 95 Prozent „Widerstandskämpfer“.

Irgendwo sagte ich mal, als ich danach gefragt wurde: Die ganze DDR ist oppositionell. Jeder hat in seinem privaten Kreis gesagt: Dies taugt nicht, und das geht nicht. Aber es gab keine Öffentlichkeit dafür. Ich meine, dass Leute, die sagen, wir waren ja schon immer dagegen, auch jetzt noch opportunistisch sind.

Welche Garantien würden Sie sehen, damit der begonnene Prozess nicht im Sande verläuft?

Hat man einmal frei Luft geholt, vergisst man das nicht so schnell.

Zur Person

Bärbel Bohley (1945 bis 2010) arbeitete als Malerin in Ostberlin und engagierte sich ab 1989 im Neuen Forum sowie nach 1996 in einem Bürgerbüro zur Aufarbeitung von Folgen der SED-Diktatur. In Bosnien setzte sie sich ab Ende der 1990er Jahre für Wiederaufbau- und Flüchtlingshilfe ein

Vielleicht, dass man es nicht vergisst, möglich, dass man daran erinnert wird: durch eine sozialistische Opposition. Das Neue Forum kann und wird unserer Meinung nach eine solche Rolle spielen. Würden Sie noch einmal rekapitulieren, wer sich mit welchem Ziel ursprünglich im Neuen Forum traf?

Da haben sich im Grunde Leute gefunden, die in den Parteien, in den Strukturen, im alltäglichen Leben enttäuscht wurden. Vor allem die 35- bis 45-Jährigen sind in viel größerem Maße vertreten als Jugendliche. Sie sagen, wir haben uns für etwas verheizen lassen, etwas, was wir als ideal anerkannt haben, aber was sich nicht eingelöst hat. Wir wollen, dass sich hier etwas verändert, weil wir nicht in den Westen gehen und weil wir nicht noch 20 Jahre so weiterleben können. Das hat erst mal noch gar nicht so viel mit politischen Zielen zu tun. Ich weiß zwar auch nicht, wo es langgeht und wo es hinführt und was jetzt unbedingt gemacht werden muss. Aber ich denke, dies trägt mehr, als wenn uns ein Ziel vor die Augen gestellt wird. Das war ja 40 Jahre der Fall.

Und was für ein Ideal haben Sie vor den Augen? So ganz ohne Utopie geht es doch auch nicht.

Ich weiß nicht, was die Leute alle für Ideale haben.

Und Sie?

Dass jeder Mensch wirklich mit einem geraden Rücken dasteht.

Um auf Programmatik zurückzukommen. Prinzipiell waren sicher viele mit der ersten Erklärung des Neuen Forums einverstanden. Kritik fand, dass die Worte Sozialismus und Antifaschismus nicht vorkamen.

Das Wort Sozialismus fehlt einfach aus dem Grund, weil es ein abgegriffenes ist. Es ist so viel unter dem Namen Sozialismus gelaufen, was nicht sozialistisch war. Wir haben gesagt, das Wort Sozialismus muss erst wieder mit Leben erfüllt werden. Ob das dann eine Gesellschaft ist, die sich demokratischer Sozialismus oder sozialistische Demokratie nennt, ist jetzt nicht unser Problem. Wir haben ein konkretes Lebensgefühl beschrieben, als man hier jeden Abend sehen musste, wie die Leute abhauen.

Und antifaschistisch?

Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Da sind wir erst später darauf aufmerksam gemacht worden. Ich habe gehört von den Skins, ich meine, da muss man nachfragen: Die sind schließlich alle hier geboren, sind durch unser Bildungssystem gelaufen und mit uns zusammen groß geworden. Es gibt kein rechtes Gedankengut, was vom Himmel fällt. Wir haben in dem ersten Aufruf in dem Sinne keine Gesellschaftskritik geleistet. Wir haben versucht zu beschreiben, unter welchen Spannungen wir leben. Dass man zwar Ordnung, aber keinen Staat von Spitzeln, dass man arbeiten und gleichzeitig keine Ellenbogengesellschaft will.

Haben Sie darüber hinaus Zielvorstellungen?

Wir sehen uns nicht als Partei, sondern als Bewegung. Wir haben kein Programm, sondern einen Problemkatalog. Wir sind davon ausgegangen, dass keiner weiß, wie es hier um die Wirtschaft steht. Wahrscheinlich leben wir besser, als wir dürften, ist die Umwelt schlechter, als wir denken; vielleicht auch viel besser, das weiß ja keiner so genau. Auf jeden Fall gibt es Arbeitsgruppen, die Zielvorstellungen entwickeln. Uns war wichtig, eine Brücke zu schlagen, zwischen denen, die betroffen sind, und denen, die Sachkenntnis besitzen. Also nicht nur Leute, die Ahnung von der Luft haben, sondern auch solche, die diese Luft atmen.

Wir denken, dass das, was wir heute basisdemokratische Gruppen nennen, auf jeden Fall einen festen Platz im politischen System bekommen muss.

Es kann schon sein, dass das Neue Forum eine ständige Einrichtung wird. Ich gehe von mir aus, dass ich irgendwann auch wieder in mein Atelier möchte.

Was das Neue Forum in seiner ersten Erklärung beschrieb, war in vielen Punkten auch Ausdruck unserer Befindlichkeit. Wir sind Mitglieder der SED, hatten vieles von dem natürlich auch thematisiert, und nicht erst seit dem Sommer. Wussten Sie, dass in der SED, an der Basis, die Lage so war?

Wenn die Partei die führende Rolle beansprucht, hätte doch ein solches Papier eher von ihr kommen müssen.

Aber die Problemfelder, die Sie fixiert haben, waren auch die unseren.

Vielleicht haben sich deshalb so viele SED-Mitglieder im Neuen Forum gemeldet. Das Neue war einfach, dass wir gesagt haben, damit gehen wir jetzt an die Öffentlichkeit. Natürlich wussten wir, dass das die Gedanken auch vieler SED-Mitglieder waren. Was uns vielleicht unterscheidet: Wenn sie vom Führungsanspruch der SED sprechen, muss ich sagen, der hat uns hierhergeführt. Dem ist die SED nicht gerecht geworden. Ich will einen solchen Anspruch ansonsten weder einer der jetzigen noch der künftigen Parteien absprechen, aber der muss sich sozusagen aus sich selbst heraus legitimieren.

Sie sagten an anderer Stelle, die öffentlichen Dispute derzeit seien für Sie noch kein Dialog. Wann wäre das der Fall?

Einen Dialog können zwei Partner miteinander führen, aber wenn der gesellschaftlich stattfinden soll, muss er institutionalisiert werden. Das kann also nicht Herr Müller sein, der sich über irgendetwas aufregt. Auch Herr Schabowski spricht nicht für sich, sondern für die SED, da muss also auch hinter Herrn Müller etwas stehen, ansonsten lässt sich Herr Schabowski nicht auf seinen Schreibtisch gucken und kontrollieren.

Dann muss sich das, was hinter „Herrn Müller“ steht, auch programmatisch klarer formulieren.

Das wird passieren. Davon bin ich überzeugt.

Woher nehmen Sie die Gewissheit?

Weil x Leute da sind, die alle etwas wollen. Aber Meinungsfindung dauert ihre Zeit. Die ist von heute auf morgen doch gar nicht zu machen, nachdem 40 Jahre geschwiegen wurde. Und ich denke auch, dass wir einfach auf dieser Zeit bestehen und uns nicht von allen möglichen Leuten drängen lassen, morgen ein Programm auf den Tisch legen zu müssen.

Das – hier in einer gekürzten Fassung wiedergegebene – Gespräch führten Andreas Lehmann sowie Jens-Uwe Korsowsky

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