Einmal in Tausend Jahren

Literatur Er war blass und durchschnittlich, pedantisch und versponnen. Peter Longerich beschreibt den Aufstieg von Heinrich Himmler zum Exekutor der NS-Rassepolitik

Erstaunlicherweise gab es bis vor kurzem noch keine umfassende Biografie über Heinrich Himmler. Trotz einiger älterer Arbeiten von Willi Frischauer, Heinz Höhne oder Josef Ackermann, blieb die Geschichte seines Aufstieges vom erfolglosen Landwirt und einfachen Parteigenossen, bis hin zum Reichsführer SS (RFSS) und Chef der Deutschen Polizei, der beispiellosen Akkumulation von Ämtern im Laufe des Krieges, bis hin zu seinem Selbstmord in englischer Gefangenschaft im Mai 1945, als Ganze noch zu schreiben.

Peter Longerich, Professor für Neuere Geschichte in London, hat sich nun an die Aufgabe herangewagt, das Leben Heinrich Himmlers mit der Strukturgeschichte des Nationalsozialismus auf über 1.000 Buchseiten miteinander zu verknüpfen.

Der junge Himmler

Longerich löst diese Aufgabe, das sei vorangestellt, in routinierter Weise. Angefangen bei Himmlers Kindheit in einer bayrischen katholischen Beamtenfamilie, seinem vergeblichen Versuch im Ersten Weltkrieg noch Soldat zu werden, bis hin zu seiner Beteiligung am Hitler-Putsch 1923 und seinem Eintritt in die NSDAP – die einzelnen Abschnitte seines Lebens werden mit großer Akribie geschildert.

Nachdem Himmler sich Mitte der zwanziger Jahre als stellvertretender Propagandaleiter ganz in den Dienst der Partei stellte, kam 1929 seine große Stunde: er erhielt den Befehl über die zu dieser Zeit unbedeutende Schutzstaffel (SS), die aus etwa 300 SS-Männern bestand. Longerich beschreibt detailliert und kenntnisreich den Ausbau der SS, die Übernahme der Politischen Polizei und der Konzentrationslager durch Himmler. Spätestens 1934 mit der Liquidierung Röhms, einer von Himmlers frühen Mentoren, und dem Abstieg der SA wird die SS zur Speerspitze der NS-Bewegung.Himmlers Stärke, das zeigt Longerich anschaulich, bestand darin, trotz aller Germanentümelei und Ordensschwärmereien, durch strategisches Geschick und machtpolitische Schachzüge immer mehr Aufgaben im Dritten Reich an sich zu ziehen. Daneben gelang es ihm, kongeniale Unterführer zu finden, etwa Reinhard Heydrich, ab 1936 Chef der Sicherheitspolizei (SIPO) und des Sicherheitsdienstes (SD). Obwohl die Organisation extrem schnell wuchs, 1932 zählte sie bereits 52.000 Mitglieder, kurz nach der Machtergreifung schon 200.000, kümmerte sich der RFSS immer noch um kleinste Details.

Himmlers Detailversessenheit

Himmlers Pedanterie machte auch vor Untergebenen nicht halt. Er drängte sich, wie schon in früher Jugend bei seinen Brüdern, in die intimsten Details ihres Privatlebens, verhängte da ein Alkohol-, da ein Rauch- oder Fahrverbot und untersagte einzelnen SS-Männern, obwohl er selbst mit der sieben Jahre älteren Margarete Boden verheiratet war, die Hochzeit mit älteren Frauen.

Zu Kriegsbeginn gegen Polen erhielt er zusätzliche Aufgaben auf dem Gebiet der Sicherung der rückwärtigen Heeresgebiete wie auch als „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ (RKF). Mit dem Angriff auf die Sowjetunion und dem rücksichtslosen Vorgehen der SS-Einsatzgruppen gegen die jüdische Bevölkerung, Kommunisten, tatsächlichen und angeblichen Partisanen, wurde Himmler endgültig zum Exekutor der mörderischen Rassenpolitik.

Longerich zeigt, dass Himmler, wenn es ihm opportun erschien, durchaus eigene Initiativen in der blutigen Politik des Regimes entwickelte. Die Brutalität und der Horror der Einsatzgruppen die von Juni 1941 ab täglich abertausende Menschen, oft mithilfe einheimischer Hilfstruppen und zum Teil in Kooperation mit der Wehrmacht, ermordeten, sucht ihresgleichen. Juden und Slawen, in Himmlers Worten „Untermenschen“, standen seiner Vision der Bildung eines Großgermanischen Reiches im Wege und mussten „ausgelöscht“ werden.

Himmlers Konsequenz

Die absurden Umsiedlungs- und Rassefantasien, erreichten in den Jahren 41/42 ihren mörderischen Höhepunkt um danach von den Vernichtungsfabriken in Auschwitz und Treblinka abgelöst zu werden. Himmler ging aber, anders als Hitler, der niemals ein Konzentrationslager oder Bombenschäden besichtigte, den Konsequenzen seiner eigenen Befehle nicht aus dem Wege. Und er verstand es angesichts der Bilder des Schreckens in seinen berüchtigten Reden die Täter in die eigentlichen Opfer zu verkehren.

Aufgrund der „menschlichen Härte“, die von seiner SS verlangt wurde, litten diese eigentlich die schrecklichsten Qualen, obwohl sie in der Ausführung ihrer geschichtlichen Aufgabe, so ihr oberster Vorgesetzter, doch im Innersten „anständig“ geblieben waren.

Während das Dritte Reich sich seinem Untergang näherte, fantasierte Himmler immer noch von zukünftigen politischen Aufgaben. Selbst im Frühjahr 1945 glaubte er daran, als Verhandlungspartner für die Alliierten akzeptabel zu sein. Einen Vertreter des jüdischen Weltkongresses, Dr. Masur, begrüßte er zur selben Zeit mit den unsäglichen Worten: „Willkommen in Deutschland. Es ist Zeit, dass ihr Juden und wir Nationalsozialisten die Streitaxt begraben.“ Eine schier unglaubliche Szene.

Himmlers Machtposition

Longerichs kenntnisreiche und sorgfältige Arbeit lässt wenig Raum für kritische Anmerkungen. An manchen Stellen hätte man, trotz des Umfanges des Buches, aber gerne mehr erfahren. Etwa darüber, wie Himmlers enge Bindung an Hitler beschaffen war oder wie generell seine Stellung innerhalb des NS-Systems einzuschätzen ist. Denn die „einmalige Machtposition“ Himmlers von der Longerich spricht, war doch substanziell eine allein von Hitler abgeleitete.

Die „große Aufgabe“ das Germanentum zu vereinen, war für den RFSS allein deshalb möglich, weil Deutschland „nur einmal in 1000 Jahren das Glück hat, einen Adolf Hitler geschenkt zu bekommen.“ Seine Führergläubigkeit war fast bis zum Schluss nur infantil zu nennen. Mehr hätte man auch gerne über Heydrich und sein Verhältnis zu Himmler erfahren. Denn Heydrich war der eigentliche Architekt des SS-Staates und es scheint, als habe er Himmler erst auf die Möglichkeiten der Schutzstaffel aufmerksam gemacht.

Im Gegensatz zu seinem formellen Vorgesetzten hatte Heydrich auch wenig Sinn für germanische Phantastereien. Welchen Anteil Heydrich bis zu seinem Tod im Juni 1942 an den Entscheidungen für die Massenmorde und welche Initiativen von ihm ausgingen, bleibt im Einzelnen ungeklärt.

Himmlers Motive

Bei der Entschlüsselung der Motive Himmlers folgt Longerich weitgehend bekannten psychologischen Erklärungen. So ist es für ihn kein Zufall, dass Himmlers Propagierung der Zweitfrau und sein Aufruf zur Zeugung unehelicher, aber rassischer einwandfreier Nachkommen, mit dem Beginn seiner Affäre mit Hedwig Potthast zusammenfällt. In seiner Homophobie und dem Kampf gegen die katholische Kirche sieht der Autor Abwehrformeln gegen innere Zweifel und Unsicherheiten.

Vieles an Himmler, die verordnete Härte, die Gnadenlosigkeit und Brutalität, seine Welt voll von germanischen Helden und jüdischen Untermenschen, können als Kompensationen eigener Minderwertigkeitsgefühle interpretiert werden. Seine Bindungsschwäche, wie Longerich die Probleme des jungen Himmlers im persönlichen Umgang mit anderen bezeichnet, mag dabei die entscheidende Rolle gespielt haben.

Aber jenseits aller psychologischen Dispositionen konnte ein Mann wie Himmler, blass und durchschnittlich, pedantisch und versponnen, ohne besondere persönliche Autorität oder Charisma, nur innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung zu solch einer Machtfülle gelangen. Unter normalen Umständen hätte die Welt niemals von ihm Notiz genommen. Nur der Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung brachte Männer wie Himmler in entscheidende Positionen in einem totalitären Staat. Seine eigentliche Stärke bestand darin, „Ideologie mit Machtpolitik“ zu verbinden. Himmler hielt die SS nicht nur zusammen, sondern er hatte die Fähigkeit, ihr stets neue Aufgaben zu geben und so ihre Dynamik zu radikalisieren.

In seiner Bilanz – und das ist vielleicht die einzige wirkliche Schwäche des Buches – gibt Longerich nur noch einmal eine knappe Zusammenfassung. Hier wäre eine stärkere Kontextualisierung von Himmlers Biografie, die mehr analytische Tiefe besitzt und systematischere Fragen – etwa die nach dem Verhältnis zwischen Partei und SS – einbezieht, hilfreich gewesen. Dennoch, Longerichs Buch wird zum Standardwerk der NS-Forschung werden.

Heinrich Himmler Biografie, Peter Longerich, Siedler, München 2008, 1035 S., 39,95

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