Eins plus eins macht wir

Alltagsgeschichte Der Dokumentarfilm „Ein Haus in Ninh Hoa“ zeichnet ein deutsch-vietnamesisches Familienporträt
Ausgabe 01/2017

Erzählung durch Addition. Ein Haus in Ninh Hoa reiht statische Einstellungen in verschiedenen Größenordnungen aneinander: Fenster, Flur, Treppenhaus, Möbel, in Plastikfolie verpackt, abgedunkelte, sparsam eingerichtete Räume mit kalten, glänzenden Fliesen. Zu diesem für irgendeine Zukunft konservierten Haus in Ninh Hoa, einer Kleinstadt im Süden Vietnams, kommt ein zweites Haus, unweit gelegen. Hier finden Alltag und Leben statt: Es wird gekocht und gegessen, geflochten und geputzt, geschrieben und gelesen, ferngesehen, geredet und geschlafen (all das ohne Hektik, Wirbel und große Lautstärke). Es gibt einen Obstbaum und eine Veranda, es gibt Hühner im Garten und einen Vogelkäfig, der abwechselnd drinnen und draußen steht, und es gibt ein Motorrad.

Der Mehrgenerationenhaushalt setzt sich zusammen aus einer sehr alten Großmutter, drei älteren Frauen und einem älteren Mann – ihre Beziehungen untereinander sowie ihre Beziehungen zu den (zunächst) abwesenden Figuren des Films lassen sich erst allmählich erschließen. Als einmal die Verwandten aus Deutschland anrufen, wird die Familiengeschichte als Migrationsgeschichte perspektiviert.

Fragmentarisch, aber konkret nähert sich Philip Widmann in dem in Zusammenarbeit mit Nguyen Phuong-Dan entstandenen Dokumentarfilm der deutsch-vietnamesischen Familie Li, die durch Krieg und Arbeitsmigration zwischen Vietnam und Westdeutschland getrennt wurde. Die Biografien dreier Brüder stecken die Koordinaten ab: der älteste, Vater des Ko-Autors Phuong, wurde in den frühen 70er Jahren als Diplomat an die Botschaft Vietnams in Bonn berufen, nach Kriegsende blieb er mit Frau und Kindern in der BRD.

Nach und nach

Bei einem Familienbesuch in Ninh Hoa starb er überraschend, das Haus, das seine Kinder für die Eltern hatten bauen lassen, soll nun verkauft werden. Der zweite Bruder, „Onkel Ham“, wurde Soldat der südvietnamesischen Armee und gilt seit 1975 als vermisst. Der dritte wurde nach Ende des Krieges in ein Umerziehungslager geschickt, er ist heute der einzige Mann in dem Frauenhaushalt in Ninh Hoa. Der Film erzählt unter anderem von dem Besuch von Neffe und Nichte aus Deutschland.

Ein Haus in Ninh Hoa ist ein Familienporträt als Raumvermessung. Ohne das Haus als allegorische Figur überzustrapazieren, filmt Widmann den Raum in wechselnden, um immer neue Details und Blickperspektiven erweiterten Einstellungen, in denen die Protagonisten mal abwesend sind, mal in offen inszenierten Szenen agieren. Widmann formuliert damit eine Antithese zum establishing shot: Der Handlungsraum erschließt sich nach und nach. Keine Einstellung gleicht der vorherigen, selbst wenn man die räumliche Struktur erfasst hat – repräsentativer Bereich mit Buddha- und Ahnenaltar und Alltagsbereich, der in rumpelige Abstellflächen übergeht –, bleiben bestimmte Räume bis zuletzt verborgen.

Überhaupt verfolgt der Film eine Ökonomie der sparsamen Information. Das ist bemerkenswert, insofern Widmann vor allem durch seine filmischen Arbeiten mit Privatarchiven bekannt ist; etwa durch die experimentelle Dokumentation Szenario über eine akribisch kartografierte Affäre im Westdeutschland der 70er Jahre.

Ein Haus in Ninh Hoa ist kein Film, der in das Erinnerungsmaterial eindringt. Dokumente wie Fotos oder der erste Brief, den der gerade in Deutschland angekommene Sohn an die Familie schrieb, werden aus der Distanz betrachtet, nur in Ansätzen vorgelesen. Widmann geht es bei aller ästhetischen Klarheit – die Einstellungen sind sorgfältig kadriert, der Ton ist konturiert – um das Dazwischen. Nicht zuletzt rahmen immer wieder Fenster und Türen das Bild, aber auch Flure und Übergänge von einem Raum in den anderen – Bereiche also, die eher unklar und diffus sind.

Vor allem Phuong, der auf seiner Reise ein Geistermedium kontaktiert, das ihm bei der Suche nach den Überresten Onkel Hams helfen soll, wird zur Verkörperung dieses Dazwischen. In einer Karaokebar bekommt er zu hören: „Psychoanalytisch betrachtet ist Ihr Bewusstsein nicht mehr vietnamesisch.“ Alle Bewegungen des Dokumentarfilms kreisen um den Verlust, es geht darum, die Leere zu bestücken: mit dem Materiellen und dem Imaginären, mit Erinnerungen und Träumen, mit Alltag vor allen Dingen.

Info

Ein Haus in Ninh Hoa Nguyen Phuong-Dan, Philip Widmann D 2016, 108 Minuten

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Geschrieben von

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