Einsamkeit

Tag für Tag Reden wir nicht davon. Wir haben Freunde. Wir sind erfolgreich. Wir verreisen. Wir stehen auf Partys herum. Ein Stimmengewirr liegt in der Luft. Das ...

Reden wir nicht davon. Wir haben Freunde. Wir sind erfolgreich. Wir verreisen. Wir stehen auf Partys herum. Ein Stimmengewirr liegt in der Luft. Das beweist doch: Wir sind nicht einsam.

Was haben wir mit der Frau in dem Second-Hand-Laden zu tun, die sich schon eine halbe Stunde in einer Lederjacke vor dem Spiegel dreht, die ihr nicht steht, die sich aber gut anfühlt, wie sie der Verkäuferin erzählt, die weiter Preise auszeichnet und nicht antwortet. Immer mehr redet diese dürre Frau, die im Stehen die Knie zusammenklemmt, auf deren Tasche "Prada" steht und auf deren Gürtel "Chanel", die der Verkäuferin nun fast anklagend ihren Mantel hinhält, "von ›Jil Sander‹, 3.000 Euro hat der gekostet!" und dann redet sie weiter durch den stillen Laden, an den Ohren der Verkäuferin vorbei, über Preise, Schnitte, Qualität, eine ganze halbe Stunde lang. Dass die Lederjacke nicht ihr Stil sei, sie sie eigentlich auch nicht gebrauchen könne, "aber ich fühle mich zuhause in ihr." Was soll man da machen, sie muss sie haben, sie zahlt, die Verkäuferin lächelt das erste Mal. Die Frau geht, die Tüte mit ihrem neuen Zuhause in der Hand. So einfach ist das, wenn man niemanden zum Reden hat.

Nein, man kann doch nicht einsam sein in einer Stadt, in der jeden Abend Feste gefeiert werden, über deren Dächern es glitzert und sprüht, und die Korken knallen. Von seinem eigenen feierabendlichen Schweigen will man nichts wissen, und wie laut die Uhr tickt, wenn man zusammengekrümmt auf dem Sofa hockt, sich an Talkshows wärmt wie eine Katze am Ofen. Es ist ja nur eine kurze Zeit, die Nacht bringt man schlafend herum, morgen bei der Arbeit ist alles anders, denn unter Menschen hat es Einsamkeit noch nie gegeben. Erst morgen Abend fällt sie einen wieder an, vollkommen überraschend. Ich doch nicht. Ich bin nicht seit Monaten, Jahren nicht mehr angefasst worden, außer vom Friseur. Und bestimmt ist meine gutgelaunte Kontaktanzeige kein chiffrierter Hilferuf wie die von hundert anderen im Stadtmagazin, die in ihren Wohnungen wie in Etagengräbern hocken, einen Ausweg suchend, den sie nicht finden können, weil jene, die auf ihr Glücksgesuch antworten, sich ganz bestimmt nach niemandem sehnen, der mit der peinlichen Krankheit behaftet ist, über die man noch seltener spricht als über Hämorrhoiden.

Es gibt welche, an denen frisst die Sonntagsstille so, dass es sie auf die Straße treibt. Durch beschlagene Fenster schauen sie in gefüllte Cafes, in denen die Menschen die Köpfe zueinander neigen. Um sich dazu setzen zu können, müssten sie über etwas Nettes reden, aber ihnen fällt leider nichts Nettes ein, denn sie sind in Not. Und eigentlich wollen sie auch nicht im Café sitzen, sondern ihren Fußpilz, ihr Brötchen, ihre Zukunftsangst, die Zeitung mit einem Menschen teilen, der auch morgen Abend noch da ist, dessen Herzschlag sie nachts im Bett deutlich spüren, der ihre ganze Lebensgeschichte kennt und nicht nur ein heiteres Kapitel.

Die Obdachlosen kann man bemitleiden, die trinken ja. Auch die alte Frau hinter der Spitzengardine ihres Wohnzimmerfensters ist ein trauriger Fall, denn er liegt offen. Niemand jedoch bedauert die siegessichere, sonnengebräunte Erscheinung mit kräftiger Stimme, festem Blick, gepflegter Kleidung. Sie würde die Nummer der Telefonseelsorge nicht wählen, denn mit den Menschen, die dort zu Kreuze kriechen, hat sie nichts zu tun. In der U-Bahn senkt sie die Augen, um solchen flehenden Blicken nicht begegnen zu müssen. Sie rückt weg, sie will sie nicht atmen hören. Nein, so einsam ist sie nicht, nur ein bisschen gelangweilt vielleicht. Dem kann abgeholfen werden. Mit einer Lederjacke zum Beispiel, die sich wie ein Zuhause anfühlt. Oder mit einem Bier. Jetzt aber raus hier und schnell vergessen.

Und wenn das Leben fortschreitet, der Badezimmerspiegel das Selbstbild nicht mehr hergibt, der Job unsicher wird, ein enger Freund in eine andere Stadt zieht, wächst die Angst, eines Tages von niemandem mehr mit dem Vornamen angesprochen zu werden, und die Angst ist berechtigt. Irgendwann gewöhnen sie sich daran, wohnen Tür an Tür, Millionen von ihnen, werden zu alten Männern und Frauen, die hinter Spitzengardinen stehen. Vor langer Zeit hätten sie einander leicht helfen können, wie die Natur es sich ja auch gedacht hatte.


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