Es war bei einem Frühstück in Schleswig-Holstein, als Gerhard Schröder ungewöhnlich deutlich wurde: "So wird das nicht umgesetzt." Gemeint war jene EU-Dienstleistungsrichtlinie, mit der ihr Erfinder, der ehemalige Brüsseler Kommissar Frits Bolkestein, "den größten Aufschwung des Binnenmarktes seit seiner Gründung einleiten" wollte. Kritiker befürchten hingegen ein ungebremstes Dumping von Qualität, Ökologie und sozialen Standards.
Natürlich blieben Schröders Worte nicht unwidersprochen. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement stellte sich sogar hinter den Bolkestein-Plan: "Ich sehe keine Gefahr, dass die Dienstleistungsrichtlinie dazu führen würde, dass der deutsche Markt von ausländischen Anbietern überschwemmt wird" - im Gegenteil werde das deutsche Handwerk im Ausland Aufträge gewinnen.
Bislang hatte die EU-Kommission fast unbemerkt von der Öffentlichkeit an der Umgestaltung des europäischen Dienstleistungssektors gearbeitet, in dem fast 70 Prozent der Beschäftigen tätig sind. Das ist nun anders, denn die Kritiker spüren kräftigen Rückenwind. Sowohl Bolkesteins Nachfolger, der neue Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy, als auch Industriekommissar Günter Verheugen haben Kompromissbereitschaft angedeutet. Aber Stephan Lindner von Attac bleibt skeptisch: "Offenbar will die Kommission die Kritiker beruhigen, ohne tatsächlich substanzielle Zugeständnisse zu machen. Damit diese Strategie nicht aufgeht, muss der öffentliche Druck verstärkt werden." Eine Demonstration mit Teilnehmern aus ganz Europa ist für den 19. März in Brüssel geplant.
Besonders umstritten ist das zentrale Element der Richtlinie, das sogenannte "Herkunftslandprinzip". Damit könnte "ein slowakischer Baubetrieb in Deutschland Bauleistungen mit ukrainischen Arbeitnehmern erbringen, die über eine polnische Arbeitserlaubnis verfügen", so Ulf Mosenthin, Abteilungsleiter im Baugewerbe-Verband Niedersachsen. Die Richtlinienbefürworter halten dies nicht für bedenklich, weil das Herkunftslandprinzip in Bezug auf die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen eingeschränkt werde.
Doch wie das funktionieren soll, bleibt für Stephan Lindner rätselhaft. Denn das Entsendeland hat nicht die Befugnisse und auch kein Interesse, in einem fremden Land Kontrollen über Arbeitsbedingungen durchzuführen. Wenn die Richtlinie tatsächlich bis 2007 in Kraft treten sollte, dann wird in einem Land zugleich das Recht von 25 verschiedenen "Herkunftsländern" gelten. Um "eventuelle Probleme" in Grenzen zu halten, empfiehlt die Kommission statt verbindlicher Gesetze Unternehmenscodizes und begründet das absehbare bürokratische Chaos ausgerechnet mit dem "dringend notwendigen" Bürokratieabbau.
Nach den schlechten Erfahrungen bei der Deregulierung des Bauarbeitsmarktes sind die Befürchtungen über negative Auswirkungen der Richtlinie ernst zu nehmen. Mit dem deutschen Arbeitnehmer-Entsendegesetz und der Entsenderichtlinie der EU wurde bereits ab 1996 versucht, die Bedingungen für europäische Arbeitnehmer in Deutschland zu regeln. Wie die Wissenschaftler Gerhard Bosch und Klaus Zühlke-Robinet in einer Untersuchung zum Bauarbeitsmarkt zeigen, lag der Gesamtlohn der ausländischen Arbeitnehmer unter dem üblichen Niveau. Besonders auf Großbaustellen wurden von Subunternehmen bestehende Vereinbarungen über Mindestlohn, Arbeitssicherheit und Arbeitszeiten nicht eingehalten. Wegen der höheren Arbeitskosten waren viele heimische Bauarbeiter sogar während des Baubooms Mitte der neunziger Jahre arbeitslos. Aufgrund dieser negativen Liberalisierungseffekte ist der Zugang ausländischer Bauarbeiter später eingeschränkt worden. Mit der EU-Richtlinie droht erneut Ungemach, meint auch Arndt Frauenrath, der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes: "Wenn sie Realität wird, dann gehen in der deutschen Bauwirtschaft die Lichter aus."
Dagegen schwärmt der EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti, dass endlich das "mittelalterliche Zunftdenken" überwunden werde. Denn sowohl die Qualifikationsanforderungen als auch die HOAI, die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure, sowie das Werbeverbot sollen nicht mehr gelten. Karl Kling, der Präsident der Bundesingenieurkammer, sieht genau darin eine Aufweichung der Qualitätsstandards mit unabsehbaren Folgen - sinkende Preise könnten "zur echten Gefahr für Leib und Leben der Bevölkerung werden". Dies zeige das Beispiel des Erdbebens vom Mai 2003 in der Türkei deutlich. Im vergangenen Jahr hat bereits der Bundesrat gemahnt, dass Fragen der Sicherheit, der Umwelt und Baukultur ebenso wenig vernachlässigt werden dürften wie die Qualifikation der Fachkräfte. Abzuwarten bleibt, wie sich die Bundesregierung verhalten wird, bis es im Juni zur ersten Lesung im Europaparlament kommt.
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