Ein Mann läuft über den Schutthaufen eines Hauses in Yalova, in der Hand hält er ein Stück Beton von der Größe einer Honigmelone. Mit den Fingern bröselt er das Stück an den Ecken ab und zerbricht es schließlich mit bloßen Händen. »Das soll Beton sein?« ruft er immer wieder unter Tränen und reißt weitere Betonstücke heraus. Murat hat in jenem Haus gelebt, auf dessen Resten er nun steht. Sieben Menschen sind unter den Trümmern gestorben, darunter seine sechsjährige Tochter. Murat selbst war »nur« eine Stunde lang verschüttet, seither hat er versucht zu retten, was zu retten war. Hilfe bekam er kaum. Niemand sei gekommen, kein Militär, keine Feuerwehr, geschweige denn Polizei oder Zivilschutz. Nach 20 Stunden des Hoffens und Wartens habe er selbst mit Hilfe von Freunden eine Baumaschine herbeigeschafft, um die schweren Trümmerteile abzuheben. Doch zu retten gab es für ihn nichts mehr.
Nun hat Murat nur noch seinen Schmerz und seine Wut - Wut auf den Bauunternehmer, der das Haus schlecht gebaut hat und Wut auf den Staat, der unfähig war, ihm zu Hilfe zu kommen. Er weist auf einen anderen Trümmerhaufen: »Alles der gleiche Unternehmer!« Dann fügt er hinzu: »Den großen türkischen Staat, den gibt es nicht mehr!« Schließlich findet er ein Kissen von einem Kinderbett und vergräbt sein Gesicht darin. »Sandburgen« werden die Wohnblöcke mittlerweile genannt, die wie Kartenhäuser zusammengefallen, oder deren Stockwerke wie ein Stapel Spielkarten auf die Seite gerutscht sind und alles dazwischen mit ihren Betonplatten zermalmt haben. Einer der solche Sandburgen gebaut hat, der Unternehmer Veli Göcer aus Yalova - wo auch Murat mit seiner Tochter wohnte - hat gegenüber einer Zeitung sogar zugegeben, den Beton »aus Unwissenheit« mit Meersand gestreckt zu haben. Göcer ist untergetaucht, man hatte versucht, ihn in Yalova zu lynchen, sein Auto wurde verbrannt, auch die Staatsanwaltschaft sucht nach ihm.
Stadtplaner, Bauingenieure und Geophysiker schließen sich der These von der schlechten Bausubstanz als Ursache vieler Einstürze mittlerweile an. Und wer durch das Erdbebengebiet fährt, kann aufschlußreiche Beobachtungen machen. Dort, wo das Zentrum des Bebens lag, gibt es neben völlig zerstörten Häusern auch viele mit kleinen und mittleren Schäden. In Istanbul - 70 Kilometer vom Epizentrum entfernt - lassen sich kaum Häuser mit mittleren Schäden finden, einige wenige sind völlig zusammengebrochen. Der Rest steht, darunter die 1700 Jahre alte von Krieg und Witterung stark angegriffene Stadtmauer - mit Ausnahme eines vor zwölf Jahren restaurierten Stücks. Überhaupt scheint das Beben fast nur große Wohnhäuser jüngeren Baudatums getroffen zu haben. Industrieanlagen, Brücken, Altbauten und Einfamilienhäuser haben ihm fast immer getrotzt.
Doch was überall im Katastrophengebiet zornig beklagt wird, das ist das staatliche Organisationschaos unmittelbar nach den Erdstößen. Helfer aus Japan waren schneller am Ort des Infernos als die eigene Zivilverteidigung. Die Polizei begann erst drei Tage nach dem Beben mit einer systematischen Registratur der Opfer, insbesondere der noch Verschütteten. Das ließ sich unter anderem an den in zynischer Weise differierenden Angaben über die Zahl der Opfer ablesen. Zu nächst war von 42 die Rede, dann von 100, am zweiten Tag nach dem Beben von 3.000 - mittlerweile hat die Türkei bei der UNO 45.000 Leichensäcke bestellt.
Bei all dem muß dem türkischen Staat allerdings zu gute gehalten werden, daß er selbst nicht nur als Retter sondern auch als Opfer des Bebens zu betrachten ist. Um so mehr kann es nur erstaunen, ja erschüttern, daß ein Land, das in diesem Jahrhundert - vor dem 17. August 1999, dem Tag des Grauens von Izmit - mehr als 70.000 Menschen bei zahlreichen großen Beben verloren hat, nach wie vor nur höchst unzureichend auf derartige Heimsuchungen vorbereitet ist. Überall werden die Gründe dafür diskutiert, sowohl in den Medien als auch von den Leuten auf der Straße in Istanbul. Der Zahnarzt Ilgaz meint, die mangelnde Verantwortung sei ein Ergebnis fehlender Kultur, denn gerade die politische und soziale Kultur des Landes habe der türkische Staat während des kalten Krieges zerstört, weil er Angst hatte, würde er anders verfahren, käme das nur dem Kommunismus zugute. Viele Gespräche und Debatten verlaufen ähnlich und lassen vor allem eines erkennen, die Verantwortung für das Ausmaß der Katastrophe wird nicht mehr wie anfangs nur bei einzelnen - bei Unternehmern, Kommunen oder der Regierung -, sondern in der heutigen türkischen Gesellschaft überhaupt gesucht. In der allgemeinen Klage über eine grassierende Verantwortungslosigkeit werden allerdings die vielen meist jungen Leute übersehen, die von überall her spontan angereist waren, um zu helfen, wegen des allgemeinen Organisationschaos aber oft nur ohnmächtig zwischen den Schutthalden umherirren konnten - auf der Suche nach Möglichkeiten sinnvoller Hilfe. Die Zeitung Milliyet sieht das Problem daher auch in der blinden Staatsgläubigkeit und schreibt: »Aus dieser Katastrophe eine Lehre ziehen heißt, daß sich die Menschen für sich selbst verantwortlich fühlen. Das heißt zu erkennen, wie falsch es ist, alles von Vater Staat zu erwarten. Das bedeutet, sich unabhängig und freiwillig in den Organisationen der Zivilgesellschaft zu organisieren.«
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