Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos kam es vor drei Jahren zu einer europäischen Begegnung von fast surrealistischer Komik. Der polnische Präsident hatte die Veranstalter gebeten, man möge ihm doch ein Treffen mit der slowenischen Delegation ermöglichen. Als er zur vereinbarten Zeit am verabredeten Ort eintraf, erwartete ihn dort zu seiner großen Überraschung eine Delegation der Slowakei. Es ist aber keineswegs nur das politische Europa, das sich mit solchen Verwechslungs-Komödien präsentiert. Auch auf dem Terrain der Poesie wird gern der europäische Gedanke und das intertextuelle Netz einer im ständigen Austausch stehenden Dichterzunft beschworen, aber auch hier sind Verwechslungen und fröhliche Unwissenheit an der Tagesordnung. Der
Der einzige hierzulande halbwegs bekannte slowakische Schriftsteller ist der in Lettre international publizierende Autor Martin Simecka, der dort seit 1993 die autoritäre Entwicklung seines Landes und die zaghaften Ansätze einer Demokratisierung kommentiert hat. Dass sich zwischen Pukanec, Levice und Bratislava europäische Dichter von Rang tummeln, das hat allerdings bislang noch kein "Museum" und kein "Atlas" der modernen Poesie verzeichnet.So zeugt es von großer Risikobereitschaft, wenn nun ein poesievernarrter Einzelgänger, der Wiener Verleger Franz Hammerbacher, seine neue bibliophile Lyrik-Reihe Edition Korrespondenzen ausgerechnet mit Büchern slowenischer, slowakischer und tschechischer Autoren eröffnet. Von Hammerbachers Autoren hat bislang allenfalls die Slowenin Marusa Krese mit ihrem Edition Suhrkamp-Band Gestern, heute, morgen (1992) die Aufmerksamkeit einiger weniger Lyrik-Insider auf sich lenken können. Der junge tschechische Dichter Petr Borkovec und die slowakische Dichterin Mila Haugová sind dagegen hierzulande nahezu unbekannt.In einem wenig beachteten Dossier der österreichischen Zeitschrift Literatur und Kritik (Heft 347/348) wurde die 1942 geborene Mila Haugová im vergangenen Jahr als die "repräsentative Dichterin der neuen slowakischen Literatur" porträtiert, die mit ihren Nachdichtungen von Georg Trakl und Ingeborg Bachmann den mitteleuropäischen Lyrik-Dialog anbahnt. Einige wenige von Haugovás Gedichten fanden denn auch in deutscher Übersetzung den Weg in eine entlegene Lyrik-Edition (Edition Thanhäuser), die der Südosteuropa-Enthusiast und Poesie-Scout Ludwig Hartinger verantwortet.Franz Hammerbacher hat nun, unterstützt durch seinen Schweizer Lektor Reto Ziegler, mit einem in dieser Branche ungewöhnlichen Enthusiasmus und einer ebenso raren handwerklichen Sorgfalt alle denkbaren Voraussetzungen dafür geschaffen, damit Autoren wie Petr Borkovec und Mila Haugová endlich als Lyriker von europäischem Rang kenntlich werden. Mit einer liebevollen Präzision hat er die Gedichtbände seiner Edition Korrespondenzen gestaltet. Alle Bände sind zweisprachig, auf edlem Papier gedruckt, fadengeheftet, mit farblich diskreten Umschlägen und einem Lesebändchen versehen.Wie intensiv sich Mila Haugová mit den Werken Trakls und Bachmanns auseinandergesetzt hat, veranschaulicht ihr zyklisch gebauter Gedichtband Sandatlas. In einer endlos-asymptotischen Kreisbewegung nähert sich der Sandatlas seinem zentralen Thema - einer tragischen Liebe nebst all ihren Paradoxien und Aporien. "Möglich ist jedwede Erfahrung": Mit dieser isolierten Sentenz, auf eine einzelne Buchseite versprengt, öffnet Haugová zunächst den poetischen Raum, um dann in sprachreflexiv sich vorwärts tastenden Versen die Unerfüllbarkeit einer tabuisierten Liebe auszuloten: die Liebe zwischen dem Dichter Georg Trakl und seiner Schwester Margarethe. Auf Trakls Gedichtzyklus Sebastian im Traum antwortet Haugová mit Gedichten, die einen Perspektivenwechsel vornehmen und nun ein weibliches Subjekt - nämlich "Sebastiana" - in seinen Traumgesichten und Ängsten vor "der Schlinge des Wortes" zeigen. Im zweiten Teil des Zyklus wird dieses Motiv von der machtlosen, verlassenen, unglücklichen Frau in einen anderen literarischen Zusammenhang gerückt: in die Bildfindungen Ingeborg Bachmanns zum Fall Franza.Mit dem bei Trakl entlehnten Namen "Sebastiana" werden immer auch Bilder der Spaltung und Trennung aufgerufen. Diese Gespaltenheiten spiegeln sich in den Motiv-Gegensätzen und dichotomischen Schlüsseltopoi der Gedichte - und nicht zuletzt auch in ihrer offenen, zerrissenen Form. Immer wieder trifft man hier auf Gegensatzpaare wie "Dunkelheit - Licht", "Beobachter - Beobachtetes" oder "Verborgenheit-Unverborgenheit". So formieren sich die Gedichte zu Vexierbildern, in denen sich die einzelnen Wörter aus ihrer vertrauten semantischen Verankerung lösen und in offenen Konfigurationen durch den Text treiben. Verbunden werden die freischwebenden Gedichtteile durch zentrale Chiffren wie "Schlaf", "Traum" oder "Enhypnion". Hypnos, der Dämon des Schlafes, fungiert hier gleichsam als die mythische Kraft, die die auseinander strebenden Fäden von Haugovás Gedichten zu einer faszinierenden Textur verwebt.Eins der "Sebastiana"-Gedichte zeigt, wie das Sprechen über die Liebe stets mit der Reflexion über die Sprache einher geht: beobachtend beobachtet inneres steinernes Tor / )schweres Aufbrechen des Wortleibs( das Atmen der Innereien / Luminiszenz der Vokale jeden Nachmittag / sich niederlegen mit ihm und nichts wissen von ihm // fast vollkommene Botschaft / wie die Trauer um einen Ort / den wir verlassen wo wir nicht liebten / Flügel ausgespannt ausgebrannt / Wasserabgrund / Wasserhaus. Diese Gedichte mögen beim ersten Lesen hermetisch anmuten, entwickeln aber durch ihr inständiges Durchbuchstabieren bestimmter Motive wie "Liebe", "Körper" oder "Traum" und durch ihre oszillierende Bewegung um bestimmte Wortkerne eine Suggestivkraft, der man sich kaum entziehen kann. So bewahrheitet sich die poetische Regel, der sich Haugovás Gedichte in einem Kapitelmotto unterstellen: eintreten in die Dichte des Worts. Diese "Dichte" wird erreicht durch forcierte Aufladung der einzelnen Wörter. In fast alle Gedichte sind dabei Reflexionen eingefügt, die die Utopie von der Körperlichkeit der Sprache heraufbeschwören: in der Kehle atmen die Wortkörper: sie verdichten / (die Karte) (die Sprache) durch feinere / Zeichen.Die Übersetzerin Angela Repka sah sich hier vor besonders hohe Anforderungen an poetische Kompositionsfertigkeit gestellt, da der Sandatlas auf jeder Textseite die geschlossene Gedicht-Form auflöst und in poetischen Randnotaten deutsches und slowakisches Vokabular mischt.Für einen solchen staunenswerten Alleingang durch die Terra incognita der europäischen Poesie, der auch die sorgfältige Kartographierung hermetischer Gedichte mit einschließt, benötigt man nicht nur eine sympathetische Bindung an die mitteleuropäische Literatur, sondern auch beträchtliche finanzielle Mittel. Nachdem Franz Hammerbacher fünf Jahre lang an der Universität Prag als Lektor für Deutsch und anschließend als Beauftragter einer österreichischen Bildungskooperation in Zagreb gearbeitet hatte, ermöglichte ihm eine Erbschaft, seine Utopie eines mitteleuropäischen Lyrik-Dialogs ins Werk zu setzen.Während der politische Traum von Mitteleuropa in der Gemengelage von nationalem Eigendünkel und ökonomischen Machtansprüchen zu zerbröckeln scheint, tritt hier ein junger Verleger an, um den europäischen Verwechslungs-Komödien ein Ende zu bereiten.Mila Haugová: Sandatlas. Gedichte. Aus dem Slowakischen von Angela Repka. Edition Korrespondenzen, Seegasse 5, A-1090 Wien, 2001, 176 S., 40,70 DM
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