Wenn das Herz zu schlagen aufhört, ist ein Mensch noch nicht zwangsläufig tot“, sagt Sanjay Gupta. Der Neurochirurg ist ein bekanntes Gesicht in den US-amerikanischen Medien: Als CNN-Korrespondent berichtete er aus Krankenhäusern in Mexiko, während dort die Schweinegrippe grassierte. Als Mediziner wiederum kritisiert er die vermeintliche Willkür der Notfallmedizin, Patienten voreilig als hoffnungslose Fälle zu deklarieren. „Der Zeitpunkt des Todes, wie ihn Ärzte in den Unterlagen festhalten, und der tatsächliche Tod sind selten ein und derselbe“, sagt Gupta. Sterben sei in der Medizin ein schwammiger Begriff. Der Neurochirurg plädiert in medizinischen Notfällen deshalb auch für neue Behandlungsmethoden. Besonders viel
ielversprechend ist seiner Meinung nach die sogenannte Hypothermie, eine Art gezielter Unterkühlung.Obgleich die Technik noch nicht in praktische Standards für die Notfallmedizin umgesetzt worden ist, spielt sie bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert eine wichtige Rolle in der Medizin, beispielsweise im Rahmen von Organtransplantationen oder Operationen. Erstmalig zu diesem Zweck wurde sie vor fast 60 Jahren eingesetzt: Im Jahr 1952 benutzte der US-amerikanische Chirurg Walton Lillehei das Kühlverfahren für die damals völlig neuartige Operation am offenen Herzen. Er hoffte mehr Zeit für den Eingriff zu gewinnen. Und genau in diesem Punkt sieht auch Gupta den entscheidenden Vorteil: „Mit genügend Zeit könnten Ärzte theoretisch jeden durch Wunden oder Krankheiten entstandenen Schaden beheben“.Ob das wirklich stimmt ist umstritten. Dass die Hypothermie aber gerade in der Notfallmedizin einen überlebenswichtigen Zeitvorsprung verschaffen kann, gilt als Fakt. Die Unterkühlung verlangsamt Prozesse des Körpers und senkt damit beispielsweise seinen Bedarf an Luft und Nahrung. Gupta vergleicht das Phänomen mit dem Winterschlaf in der Tierwelt: In einigen Tierarten schlägt das Herz statt hundertmal dann nur noch zwei- bis dreimal pro Minute und ihre Körpertemperatur fällt – je nach Spezies – von 39 auf bis zu sieben Grad Celsius. Amerikanische Veterinäre an der University of Wisconsin stellten fest, dass der Stoffwechsel während des Winterschlafs in einigen Tieren auf einen Prozent der üblichen Geschwindigkeit sinkt. „Laut Studien verlangsamt sich mit jedem Grad, um den unsere Körpertemperatur fällt, der menschliche Metabolismus um fünf bis sieben Prozent“, erläutert Gupta. Ist die Körpertemperatur also eine Art Dreh-Schalter für den menschlichen Stoffwechsel?So einfach ist es wohl nicht. Das Senken und Heben der Temperatur beim Menschen bleibt eine Gratwanderung zwischen helfen und schaden, und auch Mads Gilbert weiß das aus eigener, schmerzvoller Erfahrung.Sauerstoffmangel als HürdeGupta hält den norwegischen Mediziner am Universitätskrankenhaus in Tromsø für besonders begabt, wenn es um die Behandlung von Notfallpatienten mit natürlicher Unterkühlung geht. Bis 1999 war Gilbert mit der Hypothermie jedoch überfordert. Er behandelte hauptsächlich Sportler wie Skifahrer und Kletterer, die infolge von Lawinen oder Gletscherspaltstürzen Herzstillstand erlitten hatten. Ihre Körper waren durch die Außentemperatur so weit abgekühlt, dass Gilbert diese Patienten zwar noch nach mehr als einer Stunde wieder beleben konnte. „Doch kurz nachdem wir bei ihnen einen normalisierten Herzschlag und gewohnte Organfunktionen verzeichnet haben, starben sie an Wasserödemen und fatalen Gehirnschwellungen“, erzählt Gilbert.Der Arzt wusste auch, warum es so kam: Infolge des vorübergehenden Sauerstoffmangels hatten ihre Gehirn- und Organzellen Schäden erlitten, die erst nach der Aufwärmung und nach regelmäßiger Sauerstoffzufuhr zum Vorschein kamen. Ärzten sind diese Reaktionen als Reperfusionsschaden bekannt. Um ihn zu verhindern, führten Gilbert und sein Team bei der verunglückten Skifahrerin Anna Bågenholm eine neue Methode ein.Die 29-Jährige war nach einem Sturz zwischen Felsen und dicken Eisschichten eingeklemmt gewesen. Mit ihrem Oberkörper hing die Medizinstudentin im eiskalten Wasser eines Flusses fest. Es dauerte rund 80 Minuten, bis sie befreit werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt schlug ihr Herz nicht mehr – Anna Bågenholm war klinisch tot. Doch anstatt ihre Körpertemperatur so rasch wie möglich zu heben, ließen die Notfallmediziner sie in der kalten Temperatur. „Die Ärzte verzichteten sogar auf eine Decke“, berichtet Gupta. Bågenholm wurde im eisigen Zustand nach Tromsø geflogen. Allein der Flug dauerte knapp eine Stunde. „Als sie bei uns in die Notaufnahme gebracht wurde, lag ihre Körpertemperatur bei 13,7 Grad Celsius“, beschreibt Gilbert. „Die niedrigste Körpertemperatur, aus der bislang ein Mensch ins Leben zurückgeholt wurde.“ Die Ärzte führten den Sauerstoff extrem langsam zu und hoben ihre Körperwärme nur in winzigen Schritten und unter ständiger Beobachtung der Körperfunktionen an. Insgesamt neun Stunden lang wärmten sie Bågenholms Körper auf. Das Ergebnis: Die Frau ist heute kerngesund und forscht als Medizinerin. Ihre Rettung und Rehabilitation machten weltweit als medizinische Wunder Schlagzeilen.Während das Prädikat „Wunder“ im Fall Bågenholms doch übertrieben ist – immerhin gingen die Mediziner hier rational und gezielt vor –, fehlt es Ärzten und Wissenschaftlern für manche klinischen Raritäten auch in der Hypothermie an Erklärungen. Zum Beispiel im Fall Mark Ragucci. Der junge Amerikaner fiel nach einer Reihe von Hirnschlägen ins Koma. „Wir hatten kaum Hoffnung in seinem Fall”, gesteht Stephan Mayer, Direktor am Institut für Neurologie der Columbia University in New York. Auch Mayer nutzte die Hypothermie, um weitere langfristige Schäden an Raguccis Gehirn zu vermeiden. Dennoch erschien Raguccis Zukunft in Stein gemeißelt. Sein Körper hatte infolge des Schlaganfalls ganze 24 Minuten lang keinen Sauerstoff erhalten. Das bedeutete: vegetativer Zustand bis an sein Lebensende. Eines Abends stand der Komapatient dann plötzlich in Mayers Büro und stellte sich vor – für Mayer blieb das bislang die mit Abstand größte Überraschung seiner medizinischen Laufbahn. „In diesem Moment merkte ich, dass wir nichts über die Selbstheilungsfähigkeit des Gehirns wissen”, berichtet Mayer.Raguccis Genesung wirft ein neues Licht auf die sogenannte Neuroplastizität infolge von Gehirnverletzungen: Die Regenerationsfähigkeit von erwachsenem Hirngewebe wurde lange als gering eingeschätzt. In Raguccis Fall vermuten die Ärzte aber, dass sein Gehirn während des Komas neue Strukturen bildete, die die Funktionen der abgestorbenen Zellen übernehmen konnten. „Welchen konkreten Bedingungen und Abläufen die Neuroplastizität unterliegt, bleibt jedoch vorerst unklar“, sagt Alexandra Golby, Neurochirurgin am Brigham and Women’s Hospital, einem Universitätskrankenhaus der Harvard University. Raguccis Genesung gilt weiter als Ausnahmeerscheinung.Pumpen ist wichtiger als LuftDenn Gehirnzellen sind normalerweise hochsensibel und beginnen bereits nach zweiminütigem Sauerstoffmangel zu sterben. Darum ist es für Notfallpatienten mit Herzstillstand heute so bedeutsam, die Sauerstoffzirkulation wiederherzustellen und aufrecht zu erhalten. Bentley Bobrow vor der Mayo Klinik in Scottsdale, Arizona, geht davon aus, dass selbst wenn kein Puls feststellbar ist, nach wie vor Sauerstoff im Körper des Patienten vorfindbar ist. „Mund-zu-Mund-Beatmung ist daher weniger wichtig als die Erhaltung der Pumpfunktion des Herzens, die den Sauerstoff im Körper zirkulieren lässt“, fasst Gupta Bobrows Erkenntnisse zusammen. Im Journal of the American Medical Association hält Bobrow die ersten Erfolge der „minimal unterbrochenen kardialen Wiederbelebung“ aus den Jahren 2005 bis einschließlich 2007 fest. Seine Empfehlung: 200 Herzdruckmassagen am Stück. Die Maßnahme ist in Deutschland (noch) nicht zugelassen. „Auch in den USA dringt sie nur langsam in das Bewusstsein der Öffentlichkeit“, kritisiert Gupta.Er wiederholt emphatisch: Herzstillstand geht nicht zwangsläufig mit einem Todesurteil einher. Doch wenn kein Sauerstoff in die Organe und das Gehirn gepumpt wird und infolge dessen Zellen zerstört werden, entfernt der Mensch sich mit jeder Minute weiter vom Diesseits. Bis sein endgültiger Gehirntod eintritt. Erst dann – und nur dann – ist der Mensch wirklich erkaltet.