A–Z Wer konservativ denkt, ekelt sich schneller, sagt die Wissenschaft. Kinder finden Kacka faszinierend - bei Ziegenhoden kommt’s auf den Kulturkreis an. Das Wochenlexikon
Alfred Nicht nur zu Silvester kommt man an Ein Herz und eine Seele kaum vorbei. Wenn der WDR wieder mal diese TV-Serie um die Ruhrpott-Reihenhaus-Familie Tetzlaff zeigt, hat man die Spießigkeit der 70er-Jahre-BRD klar vor Augen. Weltanschauliche Differenzen zwischen den Generationen sind wunderbar karikiert. Da streitet sich der von 1968 infizierte Sohn (Diether Krebs) mit dem Vater, der Hauptfigur Alfred Tetzlaff (Heinz Schubert). „Ekel Alfred“ verkörpert den erzreaktionären Kleinbürger; aber einen, der sich wenigstens nicht selbst permanent als „Opfer“ wähnt, wie es heute die Sarrazins und Luckes mit ihrem weinerlichen „Mimimi“ tun. Der TV-Alfred ist schlicht ein Arsch mit Ansage – und möchte auch einer sein!
Die TV
211; und möchte auch einer sein! Die TV-Figur Friedhelm Motzki – auch Motzki wurde, wie Ekel Alfred, vom Drehbuchautor Wolfgang Menge (1924 – 2012) erfunden – war beim Publikum hingegen deutlich weniger beliebt. In den 90er Jahren fühlten sich vor allem die Zuschauer im Osten von dem ewig meckernden Frührentner aus dem Wedding persönlich beleidigt. Tobias PrüwerBBerufe Wo auch immer Menschen sind, da hinterlassen sie Dreck und andere Sauereien – manchmal sogar wahre Pottsauereien. Und eigentlich will sich niemand dafür verantwortlich fühlen, aber ... Wie der Volksmund sagt: „Irgendeiner muss es ja machen.“ Deswegen gibt es Berufe, bei denen – Erschwerniszulagen hin oder her – jeder Cent sauer verdient ist. Denkt man an eklige Berufe, fallen einem zuerst vielleicht die Toilettenfrau (Reinigungsfachkraft für Sanitäranlagen) oder Müllmänner (Müllwerker) ein, aber es gibt noch andere Broterwerbe, die die Ekelbelastbarkeit auf die Probe stellen.Tatortreiniger müssen beispielsweise gleich mehrere Stufen des Ekels überwinden, wenn sie die Schicht antreten: Den Ekel vor der Handlung, die zum Tod des Opfers führte; vor dessen körperlichen Überresten (➝ Leichen) und der Beseitigung ebendieser. Nichts für Zartbesaitete, sie langen da hin, wo andere schreiend weglaufen. Ans Eingemachte geht es auch bei Klärwerkstauchern. Sie tauchen in eine explosive Mischung aus Abwässern und Ausscheidungen ab, um die verstopften Gitter der Klärbecken zu reinigen. Selbst wenn der Spezialanzug angeblich immer dicht bleibt, ist das heikel – das könnte bei weitem nicht jeder. Felix-Emeric TotaFFleisch Wie geht es Vegetariern beim Grillen? Manche wollen nicht, dass ihr Gemüse auf demselben Rost wie das Fleisch liegt. Mit dem Tierschutz lässt sich das nicht begründen, eher mit einem Ekelgefühl. Dieses stellt sich auch bei einigen Vegetariern ein, die einst aus anderen, etwa ethischen, Gründen beschlossen, auf Fleisch zu verzichten. Aus einer Studie der Uni Jena von 2007: Jeder 20. Vegetarier gab Ekel als Auslöser für seinen Fleischverzicht an. Zehn Prozent nannten speziell den Fleischgeschmack als wichtigsten Grund. Damit gibt es weniger emotionale Vegetarier als Gesundheitsvegetarier (20 Prozent) und moralische Vegetarier (63 Prozent). Felix WerdermannFüße Jeder hat wohl schon mal die Nase über ungewaschene Füße gerümpft. Schweißfüße stinken eben! Manche Füße sind auch kein schöner Anblick, eingesehen. Doch es ist keine Frage der Toleranz mehr, wenn sich der Ekel zur Angst vor nackten Füßen steigert. Podophobie trifft diejenigen besonders hart, die sich vor ihren eigenen Füßen ekeln. Anfassen, waschen, Nägel schneiden: All das wird zum Problem. Ob sich ein liberaler Mensch dann eher psychologische Hilfe holt als ein konservativer (➝ Rechtskonservativ), sei dahingestellt. Ulrike BewerHHaltbarkeit Das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) wurde 1981 als Kennzeichnungselement auf verpackten Lebensmitteln eingeführt, es wird nach Ermessen des Herstellers festgelegt. Viele verwechseln es mit dem Verfallsdatum auf Medikamenten oder dem Verbrauchsdatum auf Fleischwaren. Da viele Menschen eine blinde Zahlengläubigkeit entwickelt haben, ekeln sie sich vor Nahrungsmitteln, die laut MHD abgelaufen sind, und werfen sie weg. Dabei sind abgelaufene Produkte nicht zwangsläufig schlecht, manche trocknen nur aus oder verlieren an Aroma. Doch die Werbung erzieht uns dazu, Lebensmittel schnell nachzukaufen. Etwas unheimlich ist allerdings die Geschichte des Lufthansa-Sandwiches, das nach 1,5 Jahren noch aussah wie am ersten Tag. Ein Journalist hatte es in seinem Kühlschrank vergessen und ließ es im Labor untersuchen. Der Schimmel- und Hefepilzbefall lag oberhalb des gesetzlichen Richtwertes. Aber das Sandwich sah eben immer noch appetitlich aus. Ein Ekel vor Konservierungsstoffen wäre hier durchaus angebracht. Sophia HoffmannKKunst Eine psychotische, männermordende Frau (Catherine Deneuve) machte Regissseur Roman Polanksi im Thriller Ekel (1965) zur Protagonistin. Abscheu gegenüber der Außenwelt versprüht Jean-Paul Sartres Roman Der Ekel (1938), in dem erstmalig die Idee des Existentialismus ausgebreitet wird. Auch für andere Kunstsparten sind Ekelgefühle oft ein Thema, etwa im Theater, wo sich mancher Besucher oder Kritiker schon vor angeblicher Ekelkunst schüttelt, nur wenn mal ein bisschen Kunstblut spritzt. Piero Manzoni trieb das mit dem Ekel und der „Künstlerscheiße“ in den 60ern auf die Spitze: Er verkaufte 90 Metalldosen, in denen er seine Exkremente eingeschlossen hatte und ließ sie in Gold aufwiegen. Die Dosen haben heute Sammlerwert, gerade oder obwohl der Ekel hier aus der Vorstellungskraft rührt: Man weiß ja nicht, was sich wirklich darin befindet. Tobias PrüwerLLebensmittelskandale Mit der Nahrung nimmt man es hierzulande vor allem äußerlich sehr genau. Es muss halt schön aussehen. Unangenehm wird es, wenn diese Fassade bröckelt – wenn etwa ein Lebensmittelskandal die Öffentlichkeit ekelt. So wurden in Fischprodukten immer wieder Fadenwürmer entdeckt. 2005 und 2006 sorgte der Gammelfleischskandal für Empörung. Tonnenweise verdorbenes Fleisch wurde einfach umdeklariert. Jüngstes Highlight dieser unseligen Reihe war der Pferdefleischskandal: 2013 fand sich Pferdefleisch, das dort nichts verloren hatte, in Fertiggerichten wie Ravioli oder Lasagne. Doch nicht nur Fleisch stößt den Verbrauchern mitunter sauer auf. In den 80ern reicherten österreichische Winzer Wein mit Frostschutzmittel an, 2011 hielt das EHEC-Bakterium das Land auf Trab. Letzteres hatte sogar Todesfälle zur Folge und sorgte deswegen für eine große Hysterie und bei manchen sogar dazu, dass sie sich zeitweilig vor Salatgurken ekelten. Benjamin KnödlerLeichen Bei toten Körpern liegen Ekel und Faszination nah beieinander. Kleine Kinder fühlen sich von toten Tieren fast magisch angezogen. Solange sie noch nicht erfahren haben, dass von Kadavern gesundheitliche Gefahr ausgeht, siegt die Neugier über das angeborene Ekelgefühl (➝ Schutz). Später können Ekelgefühle die Jobwahl (➝ Berufe) einschränken. Wer kein Blut sehen kann, sollte das Feld Mediziner meiden, Jurastudenten müssen Lektionen in der Pathologie durchstehen. Die Ekelschwelle sinkt, wenn Leichen vergegenständlicht werden, indem man sie präpariert. In Gunther von Hagens’ Körperwelten-Schau spürten die meisten Besucher eher Irritation als Ekel. Ulrike BewerMMenschen Ein Freund von mir hatte noch nie eine Beziehung. Immer wieder lernt er Frauen kennen, trifft sich mit ihnen – doch nach ein paar Wochen fängt er an, sich vor ihnen zu ekeln. Er nennt es ironisch, auf Englisch, the disgust.Tatsache ist: Nicht wenige Menschen ekeln sich vor ihren Zeitgenossen. Meist geht es um Äußerlichkeiten: Ausdünstungen, Körperflüssigkeiten, über- oder untergewichtige Body Images. Wenn es um die Hautfarbe geht, ist es purer Rassismus. Und es gibt schlichtweg einen Ekel vor unbedeckter Haut generell. Manchmal überträgt sich die Abneigung auch auf die geistige, eher abstrakte Ebene: Eine bestimmte Sprache, ein bestimmtes Verhalten wird als abstoßend empfunden. Zur Hölle kann es werden, wenn man sich vor sich selbst ekelt. Die Folge können Essstörungen, zwanghafte operative Eingriffe oder Selbstverstümmelungen sein. Eine therapeutische Behandlung ist da dringend zu empfehlen, zum eigenen Wohl und zu dem der Mitmenschen. Selbstliebe ist schließlich die Grundvoraussetzung für Nächstenliebe. Sophia HoffmannRRechtskonservativ Politische Einstellungen haben mit der Sozialisation zu tun – könnte man meinen. Aber das stimmt so nicht ganz. Auch die Biologie scheint da mitzuspielen. Eine Studie des Virginia Institute of Technology zeigt jetzt, dass man an neurologisch beobachtbaren Ekelreaktionen eine bestimmte politisch-moralische Werthaltung nachweisen kann. 83 Probanden wurden Bilder von Schimmel, Dreck und Ähnlichem gezeigt. Je stärker die Ekelreaktionen im Gehirn, desto konservativer der Versuchsteilnehmer. Und umgekehrt; je geringer die Reaktion, desto liberaler waren die Probabanden. Die politische Haltung war zuvor in Fragebögen ermittelt worden. Wichtig ist, dass sich diese Ergebnisse nur auf neurologisch messbare Werte beziehen, nicht auf Ekelbekundungen. Nicht jeder, der zugibt, sich vor Maden zu ekeln, ist also ein konservativer Knochen. Benjamin KnödlerSSchutz Wer sich wovor in welchem Maß ekelt, ist oft eine subjektive Angelegenheit. Dennoch hat der Ekel eine übergeordnete biologische – und wirklich sinnvolle – Ebene. Die Fähigkeit zur Ekelreaktion ist uns, den gängigen Theorien zufolge, angeboren, als Schutzmechanismus. Denn der Ekel bewahrt uns davor, ungesunde Dinge zu uns zu nehmen, mit denen wir uns den Magen verderben oder uns sogar vergiften könnten. Gemüse, das von blauem Schimmel überzogen ist, sollte man – anders als Blauschimmelkäse – zum Beispiel nicht essen. Den meisten Menschen kommt es wohl ohnehin unappetitlich vor. Nicht nur die Anlage zum Ekelgefühl ist uns angeboren, es gibt auch ein universelles, in allen Kulturkreisen ähnliches Ekelgesicht: gerümpfte Nase, hochgezogene Oberlippe und heruntergezogene Mundwinkel. Benjamin KnödlerZZiegenhoden Zu Ziegenhoden würde in unseren Breitengraden, in denen Nudeln und Schnitzel zu den beliebtesten Speisen gehören, wohl kaum jemand gern greifen. In Indien ist dieses Gericht aber sehr beliebt. Meerschweinchen, Frösche, Hunde, Insekten: All das wird hier schnell als widerlich abgestempelt – häufig, ohne je probiert worden zu sein – und wird doch in anderen Teilen der Welt goutiert.Das durch die Schlagzeilen gejagte Chlorhühnchen war einer der bisherigen Höhepunkte in der langwierigen TTIP-Diskussion. Auch hier reagierten viele Menschen mit Ekel. Man könnte aber auch einmal eine andere Perspektive einnehmen: Vielen US-Amerikanern ist gechlortes Hühnerfleisch lieber als etwa Rohmilchkäse, der hier bei uns vielen Menschen appetitlich erscheint, in anderen Kulturen aber als das stinkende Ergebnis übelst verdorbener Milch wahrgenommen wird. Oje, und wenn man dann erst an Kutteln, saure Nierchen, Kalbsbries, Ochsenschwanzsuppe, Leber- oder Blutwurst denkt. Benjamin Knödler
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