Da ist ein Mann, groß und kräftig, der einen mit ungeheuer langen Armen an sich zieht, beschützend, aber nicht besitzergreifend, liebevoll, aber nicht stürmisch. Dieses Traumbild entwarf der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano, gemünzt war es auf den Argentinier Julio Cortázar, nur ich habe es immer mit dem kubanischen Autor und Filmemacher Jesús Díaz in Verbindung gebracht, der in der Nacht auf den 3. Mai, sechzigjährig, in Madrid gestorben ist. Denn bei Jesús fühlte man sich willkommen, geborgen, ernst genommen; er hasste die gepflegte Phrase und das Ausweichen ins Unverbindliche, sagte, was er zu sagen hatte, und nahm, auch schreibend, das Recht auf Lebensfreude für sich in Anspruch. Er war nicht nachtragend, aber was e
s er für falsch erkannt hatte, attackierte er, auch wenn es von Oberkommandierenden und Unterläufern vertreten wurde. Er war neugierig, er war dankbar, und er war heiter. Nie werde ich sein dröhnendes Gelächter vergessen, mit dem er ironische Pointen belohnte oder in das Lachen anderer, bei seiner kunstvollen Darbietung von Witzen, einstimmte. Jesús Díaz hatte, wie er selbst erklärte, die kubanische Revolution "von unten und von innen" mitgetragen. Zuerst, als Schüler, im Kampf gegen die Batista-Diktatur, dann gegen die anticastristischen Freischärler in der Sierra de Escambray. Er gründete die Kulturzeitschrift El caimán barbudo, die er bis 1968 leitete, lehrte Philosophie an der Universität Havanna und gab die Zeitschrift Pensamiento Crítico heraus, bis sie wegen ihrer undogmatischen Ausrichtung verboten wurde. Ab 1971 war er als Regisseur und Drehbuchautor am Nationalen Filminstitut Kubas tätig, ehe er auch da in Konflikt mit dem Regime geriet. Sein erstes Buch, der Erzählband Los años duros, war 1966 mit dem renommierten Premio Casa de las Américas ausgezeichnet worden, aber sein großer, auch formal komplexer Roman aus den frühen siebziger Jahren, Las iniciales de la tierra (dt. Die Initialen der Erde), durfte erst 1987 in Kuba erscheinen. In ihm legt ein junger Mann, der die Revolution, ihre Errungenschaften, Irrtümer und Brutalitäten von Anfang an begleitet hat, Rechenschaft über sein Leben ab und zwingt sich dabei zu unbedingter Ehrlichkeit. Es war dieselbe Ehrlichkeit, die der Autor Anfang Februar 1992 an den Tag legte, als er bei einer Diskussionsveranstaltung der Zürcher WochenZeitung - übrigens mit Galeano als Widersacher - Castros Losung "Sozialismus oder Tod" als unmoralisch zurückwies und kurz darauf vom damaligen Kulturminister Armando Hart als ehrloser Verbrecher gebrandmarkt wurde: "Du hast dich für ein Linsengericht verkauft, Jesús. Du müßtest eigentlich Judas heißen." Mit diesem Urteil war Jesús Díaz zum Verbannten geworden. Seine weiteren Romane, in denen er die Bruchstellen von individueller Erfahrung, künstlerischem Bemühen und politischem Geschehen ausleuchtete, durften in Kuba nicht mehr erscheinen. Leidenschaftlich den Menschen seiner Heimat verbunden, lebte Jesús - als DAAD-Stipendiat, dann als Lehrer an der Filmhochschule - in Berlin, seit Mitte der neunziger Jahre in Madrid. Dort startete er auch ein einzigartiges Projekt, die Zeitschrift Encuentro de la Cultura Cubana, der es binnen kurzem gelang, die Trennung zwischen Insel- und Exilkubanern zu durchbrechen. Jesús und seinen Mitarbeitern ging es nicht um Abrechnung mit dem starrsinnigen Caudillo und dessen Günstlingen, sondern um ein publizistisches Forum, das sich der nationalen Geschichte vergewissert, um Perspektiven für ein nachcastristisches, unabhängiges und demokratisches Kuba zu eröffnen. Auf informellen Kanälen gelangten an die tausend Exemplare jeder Nummer auf die Insel, wo sie heimlich von Hand zu Hand gingen. Seit einem Jahr erscheint unter fast gleichlautendem Titel - cubaencuentro.com - auch eine digitale Tageszeitung, die als beste Informationsquelle zur aktuellen Lage gilt. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Jesús Díaz zu diffamieren. Als Verräter, als Überläufer zu den Revanchisten in Miami, als Revisionist, als Konterrevolutionär. Umgekehrt lief das Gerücht, er sei ein agent provocateur des kubanischen Geheimdienstes. Übel genommen wurde ihm, dass er nun die Sache der Versöhnung ebenso inbrünstig verfocht wie vordem die Ziele der Revolution. Was ihn antrieb, war das Gefühl eigener Verantwortung und die Angst vor einem Blutbad. "Es gibt zu viele Schuldige in Kuba", heißt es in seinem dritten Roman Die Haut und die Maske. "Und jemand muß endlich anfangen zu verzeihen." Für die Zeit nach Castro strebte Jesús keine politischen Ämter an. Aber ich weiß, er wäre unter den ersten gewesen, die in ein freies Kuba zurückkehren werden. Dort hätte er Encuentro weitergeführt, gemäß seinem Willen, nicht als Richter, sondern als Zeuge des Geschehens aufzutreten. Sein Exilland Spanien missfiel ihm nicht. Bei allen Mängeln übersah er nie, dass dort die demokratischen Grundrechte respektiert werden. Aber als Schriftsteller lebte er am Rand des spanischen Kulturbetriebs, der sich durch Anpassungszwang, Opportunismus und Frivolität auszeichnet. Die unterschiedslose Begeisterung, die Kritik und Publikum dort für literarische Konsumartikel aufbringen, machte ihn wütend. Wir sprachen darüber, als ich ihn Mitte Februar in der Encuentro-Redaktion besuchte. Ein paar Tage später stellte er sein letztes Buch vor, Las cuatro fugas de Manuel. Es schildert die Fluchtwege des kubanischen Stipendiaten Manuel Desdín von Charkow aus durch halb Europa, über eben gefallene und neu gezogene Grenzen hinweg bis zu jenem Moment, da Manuel in Berlin einen Landsmann trifft, Jesús´ Sohn Pablo, der ihn mit nach Hause nimmt. Bei der Buchpräsentation würdigte Jesús seine wenigen Freunde, die wie er immer noch nach dem "punto imposible" suchen, der unmöglichen Stelle, an der Revolution und Ethik, Glück und Verantwortung zusammenfallen. Aber eigentlich hätten wir ihn würdigen müssen, den "hombre imposible"; er hat uns das Gefühl der Einsamkeit und den bitteren Geschmack der Vergeblichkeit genommen, wenigstens für die Dauer des Zusammenseins und der Lektüre seiner Bücher. Jesús Diáz starb am 2. Mai 2002. Ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, seiner Gegenwart entbehren zu müssen.
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