Genua, 20. Juli 2001: Der Leichnam Carlo Giulianis wird abgedeckt
Foto: Sean Gallup/Getty Images
Welche Bilder vom Gipfel in Genua werden bleiben? Sicherlich nicht das obligatorische Gruppenfoto der acht Regierungschefs, denn das zeigt das business as usual, das der Gipfel nun wirklich nicht war. Wahrscheinlich bleibt eher das Bild des toten 23jährigen Demonstranten in den Köpfen haften und damit verbunden ein Moment des Tragischen, überlagert von Gewalt. Angesichts dieser von Auflösung geprägten Situation reicht der geistige Horizont einiger Herren Leitkommentarschreiber nicht sehr weit. So kommt einer von ihnen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lediglich auf zwei Formeln, um über die Ereignisse und Folgen zu reflektieren: den »massenhaften Auflauf auf Straßen und Piazza« betrachtet er als nicht mehr »zeitgemäß« un
äß« und meint »die Zeit der Barrikaden, die immer schon etwas Operettenhaftes hatten« sei vorbei. Um dann zu reklamieren, dass »die Welt zu kompliziert geworden ist«.Dennoch: Genua hat eine neue Runde in den politischen und auch kulturellen Debatten ausgelöst. Diskutiert wird über die Stärke und Schwäche, den Mangel an übergreifenden politischen Forderungen, die Heterogenität der Bewegungen von Globalisierungsgegnern, die Praktiken des staatlichen Gewaltmonopols, Formen der Souveränität des Staates, die Rolle und das Vorgehen, die Verantwortung der Justiz und Polizei, die Formierung der neuen Rechten mit der Wahl Berlusconis in Italien. Vor diesem Hintergrund frage ich mich: Wie kommt es, dass das derzeit wichtigste Buch für die aktuelle politische Situation in Westeuropa und den USA, ein Buch, das mit der Analyse solcher Phänomene, wie sie jetzt in Genua zu erleben waren, einsetzt und eine komplette Theorie der Globalisierung liefert, in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen wird? Ich meine Michael Hardts und Antonio Negris 500seitige Studie Empire.Das Interesse des bekannten italienischen politischen Philosophen Negri richtet sich explizit auf die Analyse sozialer Bewegungen und Kämpfe, etwa die Unruhen (»riots«) in Los Angeles Anfang der neunziger Jahre, der Aufstand der Zapatisten in Mexiko oder die großen Pariser Streiks 1995, die zu breiten Protestbewegungen wurden ebenso wie die Kämpfe im ostasiatischen Raum, in Indonesien. Negri hält diese »elementaren Ereignisse« für symptomatisch. Symptome für die Situation der Globalisierung, die er mit dem Konzept Empire fasst. Damit meint er mehr als Imperialismus in neuem Gewand. Empire im September 2000 bei Harvard University Press erschienen, erlebte eine erste große Auflage. Noch in diesem Jahr wird es als Paperback herauskommen.Das Buch liegt auf Französisch vor, in der internationalen Presse erregte es großes Aufsehen und in wissenschaftlichen Diskussionen im europäischen Ausland, den USA steht es an erster Stelle. Warum wird Empire in Deutschland nicht verlegt? Der hiesige ignorante Umgang mit dem Band und anderen Neuerscheinungen dieser Art, etwa bei dem neuen Buch des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek Die Tücke des Subjekts, zeigt, dass es in Deutschland ein Theorievakuum gibt, was die letzten 20 Jahre Philosophie und Politikwissenschaft angeht. Wichtige Namen, Begriffe, Prämissen, Konzepte, selbst Teile von Argumentationen wurden kaum diskutiert, geschweige denn rezipiert. Doch ist Deutschland nicht verloren, obwohl die Regierungsopposition derzeit beklagt, dass die Bundeswehr nicht einsatzfähig ist.Angeblich stehen wir vor einem heißen Herbst der philosophischen Theorie. Denn pünktlich zur Frankfurter Buchmesse soll der einstige Buhmann in Deutschland, Jacques Derrida, der vom deutschen Feuilleton in den siebziger Jahren mit »LaCanCan« und »DerriDaDa« verschrien und in Alternativverlagen mit studentischen Übersetzungen abgespeist wurde, den Adornopreis der Stadt Frankfurt bekommen. Das ehemalige Adorno-Institut, das Institut für Sozialforschung dort, nimmt 2001 zur Kenntnis, dass eine Theorie der Macht, die von Voltaire bis zu Hannah Arendt reicht, mit dem Namen Michel Foucault zusammenfällt und widmet dem Thema im Herbst ein Kolloquium. Dazu wird uns der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Jürgen Habermas, neuerlich auch bekannt als der Philosoph der »Berliner Republik« von der Paulskirche aus sagen, wohin die Reise geht. Wohin geht sie nach den Ereignissen von Genua?Ich werde meine weiße Bluse bügeln, um so gewappnet an dem wichtigen Ereignis teilzunehmen. Aber welch headache, wenn ich daran denke, dass am 1. November, wenn die große Sache steigt, das Buch von Michael Hardt und Antonio Negri noch nicht vorliegt und weder diskutiert noch offizielle Weihen bekommen kann. Bei keinem der großen verdienten Verlage wird Empire im Programm angekündigt. Madame, werden einige sagen, genügt es Ihnen nicht, dass der Segen der kritischen Theorie nun der Machttheorie des längst verstorbenen Michel Foucault gilt? Madame sieht, statt diese Leistung zufrieden anzuerkennen, zwei weitere Buhmänner im Schrank sitzen, die erst in 20 Jahren (das ist so das deutsche Zeitmaß, um weltstürzende Theorien auszusitzen) ihre Weihen bekommen werden.Empire wurde zwischen dem Golfkrieg 1991 und dem Eintritt in den Kosovokrieg 1997 geschrieben. Wie Žižek gehen Hardt und Negri vom ABC der Postmoderne und der Theorie der Postkoloniale aus, bearbeiten das, was Foucault und Derrida nicht gemacht haben. Es ist hier nicht der Platz, 20 Jahre Postmoderne- und Postkolonialismusdebatte nachzuholen, doch die Debatte hat existiert. Ja, es gab eine Zeit des Imperialismus, und es gibt eine des Post-Imperialismus. Aber Empire meint etwas anderes: Ausgehend von sozialen Bewegungen und Kämpfen seit Beginn der neunziger Jahre, die für Negri »nur Symptome und keine strategischen, fundamentalen Dinge sind, hochinteressante Kämpfe gegen die Globalisierung, aber eben Teil der Globalisierung« - wie er in einem Interview 2001 bemerkt - wollen die Autoren in Empire Nation, Staat, Volk, Arbeit neu denken und redefinieren. Die Autoren beschreiben und diagnostizieren die Situation ökonomischer politischer Globalisierung der neunziger Jahre als globale Herrschaftsform: als »Empire«.Für Slavoj Žižek ist Empire nichts geringeres als ein »Neuschreiben des Kommunistischen Manifests für unsere Zeit«. Empire zeige, so Žižek, schlüssig wie »globaler Kapitalismus Antagonismen hervorbringt, die schließlich seine Form explodieren lassen«. Dieses Buch, so Žižek, »läutet die Totenglocke, sowohl für die liberalen Fürsprecher vom ›Ende der Geschichte‹, als auch für die pseudo-radikalen Cultural Studies, die die richtige Auseinandersetzung mit dem heutigen Kapitalismus scheuen«. Entscheidend sind die Überlegungen Hardts und Negris zum möglichen politischen (starken oder auch militanten) Subjekt ohne jegliche Sympathie für eine politische Partei oder Organisationsform. Sie machen die philosophische Verwandtschaft und politisch-theoretische strategische Nähe zu Postmoderne und Postkolonialismus deutlich.Vor Empire drehten sich Hardts und Negris Arbeiten um Fragen, die heute zum Allgemeingut gehören: Der Transformation von Formen der Akkumulation des Kapitals, des Arbeitsbegriffs, der Neubestimmung von sozialen Klassen. In Negris Buch Die wilde Anomalie über die politische Philosphie Spinozas und Machiavellis wurden Schlüsselkonzepte potentieller Macht und Masse entwickelt, also Revolutionstheorien, Herrschaft- und Staatstheorien. Ein selbst mit sagenhafter Synthesekapazität ausgestatteter US-amerikanischer Wissenschaftler, Fredric Jameson, hält Empire »für die erste große theoretische Synthese des neuen Milleniums, die eine Theorie der Globalisierung entwirft, die politische Energien stärkt und den Wust an Unheilsbeladenen poststrukturalistischen Analyse zusammenfasst und in eine positive und affirmative Sicht auf die Zukunft wendet.« Jameson hält Empire für eine gut verständliche und nachvollziehbare »neue historische Erzählung«, die beides sei, sowohl »Kritik der vielen, verschiedenen, zeitgenössischen Theorien«, als auch eine »prophetische Aufforderung an Kräfte, sich zusammen zu tun«. Er urteilt abschließend: »kein schlechter Weg um das neue Jahrhundert zu beginnen«.Selbstverständlich gibt es auch in Deutschland eine institutionalisierte Globalisierungsdiskussion. Besonders geführt wird sie unter den Soziologen der »Zweiten Moderne«, eine Gruppe um den Soziologen Ulrich Beck. Er gibt eine Schriftenreihe Zweite Moderne heraus. Doch ist die Sache sehr kunterbunt, denn in diesem Rahmen finden die konformistischen Globalisierungsreflexionen eines frustrierten Präsidentschaftskandidaten und Schriftstellers wie Vargas Llosa genauso Platz wie die sympathischen, flotten Worte eines Anthony Giddens, der hier auf der trockenen Spielwiese Tony Blairs britische Politik einübt. Eine Grundgeste von Hardt und Negris Buch, die sich bei den Herren der »Zweiten Moderne« noch nicht herumgesprochen hat, ist das Post-Eurozentrische. Die Zeiten, in denen etwa brasilianische Verhältnisse als Horrorszenario an die Wand gemalt werden für eine schief gelaufene Entwicklung in Europa, sind nun wirklich passé, Herr Beck! Ebenso peinlich ist, das große Übel Eurozentrismus immer wieder neu zu entdecken, vor allem wenn sich avantgardistisches kritisches Denken ankündigt. Das geschieht explizit seit nunmehr 30 Jahren. Auch für die Theoretiker der Leitkultur ist dringend zu empfehlen, sich vor Augen zu führen, dass wir in post-eurozentrischen Zeiten angekommen sind. Ihr manichäisches Weltbild, die westeuropäischen, demokratischen, christlich geprägten auf Marktwirtschaft und mediale Aufklärung setzenden hochentwickelten Länder gegenüber den wenig entwickelten Ländern, die Schauplatz von Mord, Elend, Unterentwicklung und Terror sind, anzusetzen ist, salopp gesagt: out.Hardt und Negri zeigen, dass das entstehende Empire sich vom vergangenen Imperialimus unter europäischer Herrschaft und kapitalistischer Expansion grundlegend unterscheidet. Als zwei Schlüsselelemente des Empire lassen sich das Aufkommen »hybrider Identitäten« und das Moment expandierender Grenzen bestimmen. Negri vertritt die These: »Gegen die Globalisierung kann man nicht im Rahmen des Nationalstaates vorgehen. Man muss sich in das Innere dieses großen Weltmarkts begeben. Aber welche Parteien die Normen im Innern dieses Raumes definieren, wissen wir nicht. Das kann nur die Erfahrung klären«. Während Antonio Negri noch in Rebibbia, dem römischen Gefängnis in Haft sitzt, geht Michael Hardt auf dem schönen Campus der Duke University spazieren. Ich glaube, meine weiße Bluse bleibt im Schrank, und ich kaufe mir lieber eine bunte.
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