Emel träumt sich in die heile Welt

Szenenwechsel Die Freitag-Kolumne: Regisseur und Schauspieler Tamer Yigit erzählt von den Menschen in seiner Welt

Ich heiße Emel und bin 17 Jahre alt. Früher war ich ein neugieriges, aufgewecktes Kind, ich wollte die Welt verändern, meinen Beitrag dazu leisten dass es den Menschen besser geht, ich wollte armen Menschen in Afrika helfen, Ärztin werden, ich war so idealistisch, ich habe geglaubt. Wo ist das alles geblieben, wann war das gewesen?

Mir geht es wieder gut, doch ich habe Angst, Angst davor, dass mich meine Vergangenheit wieder einholt. Meine Vergangenheit ist dreckig, kaputt und noch nicht so lange her. Vor sieben Monaten hab ich das letzte Mal auf einem Festival einen Joint geraucht, vor sechs Monaten habe ich das letzte Mal Sex gehabt. Das erste Mal hatte ich mit zwölf, es war eine Vergewaltigung. Ich heiße Emel und bin 17 Jahre alt und ich selbst gebe mir jetzt die Schuld an meiner Vergewaltigung.

In der Zeit danach habe ich kiloweise Schminke auf mein Gesicht aufgetragen, bin in die Clubs gegangen und wenn ich einen Jungen kennengelernt habe, hab‘ ich mit ihm sofort gefickt, ich dachte, bevor er mir Schlimmes antut, mache ich alles freiwillig mit, damals war alles dreckig. Ich dachte, wenn ich Glück habe genieße ich wenigstens den Moment danach, jemand liegt neben mir, ich werde umarmt, dass es schön ist und ich nicht nachdenken muss.

Irgendwie war ich das nicht, doch diese Zeit gehört zu meinem Leben und heute kann ich sagen, dass ich mich bestraft habe, für was auch immer, keine Ahnung. Ich bin durch die Welt gegangen, hab‘ mich einfach weggeballert, ich war nur ein dreckiges Objekt, ich fand mich so eklig, ich wollte allen naiven Fotzen zeigen, seht her ihr Huren, ich wurde gefickt, ich wollte so tief, so tief wie möglich sinken, so dass mir niemand was antun kann, alle Emotionen waren abgeschaltet.

Ich hatte nicht mal mehr Spaß an den Dingen, die ich tat und jetzt, jetzt geht es mir gut, aber wie lange noch?
Meinen Vater habe ich erst vor einem Jahr kennengelernt, ich habe mich sehr gefreut darüber, ihn das erste Mal zu sehen, aber er war einfach nur scheiße zu mir. Er hat mich und meine Mutter beleidigt, dabei hab ich ihn gebraucht. Ich finde Väter dürften nicht nachlässig mit ihren Töchtern sein, sie müssen schon manchmal durchgreifen. In Kreuzberg laufen nur asoziale scheiß Väter herum, sie müssten ihren Kindern eine Grenze aufzeigen und sie irgendwie beschützen. Mich hat niemand beschützt. In Zukunft soll alles anders werden, obwohl, was ich jetzt mache, ist auch nicht richtig, jetzt mache ich exzessiv genau das Gegenteil, ich habe überhaupt nicht meine Mitte gefunden.

Ich trinke keinen Schluck Alkohol mehr, einfach kein Bedürfnis, ich habe auch Angst davor wieder die Kontrolle über mich zu verlieren oder irgendwo aufzuwachen und mich selber nicht zu mögen. Sogar in Situationen, in denen ich gerne etwas trinken würde, sage ich nein, wie so eine scheiß trockene Alkoholikerin.

Ich heiße Emel und bin 17 Jahre alt, ich habe jetzt einen neuen Freund, er hatte gestern Geburtstag und ist 39 Jahre alt geworden. Er ist ein sehr geradliniger, disziplinierter Typ, ich bin total in ihn verliebt, was mir auch Angst macht, weil ich schon Wünsche und Träume habe, ich fühle mich gerade sehr gesund, super gesund, trotzdem kommt es mir nicht sehr echt vor. Ich will wissen, ob ich mit ihm mein Leben verbringen kann, jemanden zum Zeit verschwenden, kann ich nicht gebrauchen oder bin ich vielleicht nur in die Vorstellung verliebt, dass er mein Mann fürs Leben sein könnte, denn ich möchte eine Familie, ich möchte diese heile Welt für mich.

Von ihm bekomme ich sehr viel Aufmerksamkeit, sagt er immer, und wir haben eine Beziehung, sagt er, aber eine Beziehung ist auch nicht immer die heile Welt, aber sie steht nun bei mir über allem. Ich bin super gerne die Hausfrau, ich will für ihn da sein, einkaufen, kochen, wenn er sagt, halt die Klappe, halte ich gerne die Klappe, ich hab damit kein Problem, das hört sich vielleicht scheiße an, aber ich bin so eine, ich bin halt keine, ich will es jetzt nicht so sagen, eine deutsche widerspenstige Frau, ich weiß es nicht, ich würde gerne das alles für ihn tun.

Emels Telefon summt, es ist eine Nachricht von ihrem Freund, sie liest sie mir vor. Hör zu Emel, sage ich zu ihr, du musst aufpassen, dass du bei der ganzen Hingabe zu deinem Feund nicht vergisst dein Leben zu leben.

Ich bin Emel, 17 Jahre alt und ich muss aufpassen, dass meine Bedürfnisse nicht zu einer Haltung werden. Emel wischt sich die Tränen weg und lächelt.

Tamer Yigit, geb. 1974 in Berlin, ist Schauspieler und Regisseur. 2006 beteiligte er sich als Regisseur am Festival Beyond Belonging am Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU), wo er mittlerweile bereits drei Stücke inszeniert hat. Neue Räume entdecken, so beschreibt er seine künstlerische Vision. Dies versucht er auch bei seiner Arbeit mit Jugendlichen, die in einem schwierigen sozialen Umfeld leben. Für den Freitag wird er exklusiv in einer wöchentlichen Kolumne Eindrücke aus seiner Welt schildern und von ihren Menschen erzählen. Er lebt in Berlin-Kreuzberg.

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