Es sind deutliche Worte zur rentrée, dem Schulbeginn: „Jugendliche, ihr haut besser ab! Eine Gesellschaft, die ihre Jugend so behandelt, ist dabei unterzugehen.“ Drei Männer, Mitte 30 – ein Rapper, ein Unternehmer und ein Fernsehjournalist – haben in der linken französischen Tageszeitung Libération Anfang September einen Text veröffentlicht, der seither für Aufruhr sorgt. Statt jahrelang auf Einstiegschancen und Aufstiegsmöglichkeiten zu hoffen, sollten die Jugendlichen ihre Heimat verlassen und „ihr Glück anderswo suchen“.
Denn Frankreich sei krank. „Ihr lebt in einer Gerontokratie, in einem ultrazentralisierten, von Sklerose zerfressenen System, das täglich schwächer wird“, so der Befund.
d“, so der Befund. „Selbst untergeordnete Führungsposten werden an niemanden vergeben, der nicht mindestens 40 oder 50 Jahre alt ist.“ Die Autoren halten Länder wie Brasilien, China und Kolumbien dagegen, in denen es möglich sei, trotz geringer Anfangsgehälter den Lebensstandard „in ein paar Jahren erheblich zu verbessern“.Gefühl des VerlorenseinsDer Ton des Aufrufs, aggressiv und doch berührend, verrät einiges über das ungewöhnliche Autoren-Trio: Die Drei kennen sich aus der Pariser Hip-Hop-Szene der Neunziger, in der sie als Performer und Kommentatoren unterwegs waren. Inzwischen haben sie sich etabliert: Félix Marquardt ist Unternehmer und bringt mit einer internationalen Networking-Agentur Regierungschefs, Industrielle und Medienmacher zusammen. Der Journalist Mouloud Achour ist eine TV-Größe: Wenn es um die unterprivilegierte Jugend aus den Vorstädten geht, engagieren die großen Sender gerne diesen Franzosen algerischer Abstammung.Und Mokless ist Mitglied der anspruchsvollen Hip-Hop-Gruppe Scred Connexion, deren Texte durch Poesie und Reflexionen auffallen. Aufgewachsen ist er in Barbès, einem der härtesten Viertel von Paris. Seine Eltern sind Einwanderer aus Tunesien. „Sie haben alles aufgegeben und einen Neustart gewagt. Sie hatten keine Angst vor dem Risiko“, erzählt er. Mokless selbst hat Frankreich nie verlassen. Seit er 18 ist, rappt er und hat sich in der Hip-Hop-Szene durchgesetzt. „Ich bin da geblieben, wo ich Arbeit hatte“, gibt er zu. Aber bei seinen Konzerten begegne er oft einem Gefühl des Verlorenseins: „Da ist eine Generation, die man einfach in eine Ecke gestellt hat.“Der Gedanke, lieber zu flüchten als zu kämpfen, passt zu einer Generation, die trotz der Indignados in Spanien und trotz Occupy keine Revolte angezettelt hat. In dem aktuellen Aufruf steht: „Fast jeder vierte Jugendliche ist arbeitslos“, laut offizieller Arbeitslosenstatistik sind in Frankreich in der Tat etwa 23 Prozent der 15- bis 24-Jährigen ohne Beschäftigung. Damit liegt die Grande Nation zwar noch weit hinter den Krisenländern Spanien (53 Prozent), Griechenland (55 Prozent) und Italien (34 Prozent). Aber im Vergleich zu Deutschland (8 Prozent) sieht die Lage traurig aus. Und: Die Arbeitslosenzahlen steigen weiter.Kritiker wie Anne Sonnet, OECD-Expertin für Jugendarbeitslosigkeit, halten den Aufruf zur Emigration trotzdem für eine „reine Provokation“. Rechnet man Studenten und Auszubildende aus der Anzahl der Nicht-Beschäftigten heraus, sinkt der Wert für Frankreich auf 12 Prozent. „Etwa einer von zehn jungen Menschen auf Arbeitssuche findet keine Stelle“, berichtigt Sonnet.Für den Unternehmer Marquardt ist das nur Rechenakrobatik und „eine Beleidigung für die Jugendlichen“. Die Misere setze sich an Frankreichs Hochschulen doch fort: Nur die wenigen, die das Glück haben, an einer Eliteuni unterzukommen, könnten ihre Lage verbessern. Das normale Diplom in Sozialwissenschaft etwa sei wertlos auf dem französischen Arbeitsmarkt. Dem stimmt auch Sonnet zu: „Ein geradliniger Bildungsparcours ist bei uns sehr wichtig, und Abschlüsse von selektiven Hochschulen werden geschätzt.“ Auslandserfahrung, Sprachkenntnisse und Mut zu Veränderung würden hingegen in diesem starren französischen System kaum zählen. „Dieses Land lebt in seiner Geschichte. Es vergisst die Zukunft seiner Bevölkerung.“„Wir lieben Frankreich“Achour, Mokless und Marquardt geben nun ein Interview nach dem anderen. Auf der eigens eingerichteten Onlineplattform barrez-vo.us berichten Jugendliche von ihren Erfahrungen, der Server brach schon drei Mal überlastet zusammen. Libération, auf deren Meinungsseite der Rummel begonnen hatte, wird überschwemmt von Leser-Kommentaren.Offenbar haben die drei Provokateure den Nerv junger Franzosen getroffen. Die Älteren reagieren dagegen defensiv oder eingeschnappt: „Die Autoren können selber abhauen“, ließ sich Henri Guaino entlocken, einst Redenschreiber von Sarkozy. Eine Parteigenossin relativierte: Die heftigen Reaktionen auf den Artikel und die Angriffe würden die pessimistische Grundstimmung im Lande spiegeln. Arbeitsminister Michel Sapin ermutigte die Jugend, sich im Ausland umzusehen, dort gebe es viel zu lernen. Danach sollten sie dann aber bitte wieder zurückkommen und das Land von ihren internationalen Erfahrungen profitieren lassen.Ihren Aufruf würden sie selbst als Lösungsansatz betrachten, betonen die Autoren. „Es geht nicht um das Weglaufen vor Problemen“, stellt Achour klar. „Wir lieben Frankreich. Die rechtsextreme Partei Front National hat einmal Wahlkampf mit dem Spruch gemacht: ‚Frankreich. Love it or leave it.’ Wir sagen heute: Wer Frankreich wirklich liebt, muss es verlassen.“Nicht flüchten, aber weggehen und sich anderswo neu erfinden. Schluss mit der exception française – diese Abschottung kann sich das Land nicht mehr leisten.Endlich wird darüber geredet.