Marcel Fratzscher hat eine treffende Beschreibung gefunden für die bisherige Krisenpolitik der Koalition: Es regiere das „Prinzip Hoffnung“, so der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) anlässlich des dritten Entlastungspakets. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) gab diesem „Prinzip Hoffnung“ bald darauf ein Gesicht, in Lubmin erklärte er mit zerzauster Denkermiene: Es gäbe durchaus eine Chance, gut durch den Winter zu kommen: wenn alle Gas wie Strom sparten und dann noch das Wetter mitspiele.
Während in anderen EU-Staaten entschlossene Maßnahmen gegen die Energiekostenkrise längst Realität sind (lesen Sie die Texte unten), ist ein wachsender Teil der Bevölkerung in Deu
#246;lkerung in Deutschland nicht mehr bereit, sich auf Daumendrücken bei der Wettervorhersage und ein paar Einmalzahlungen zu verlassen. Sagten Anfang Juli noch 51 Prozent der Befragten, sie trauten keiner der existierenden Parteien zu, mit den Problemen in Deutschland fertigzuwerden, ist dieser Wert mittlerweile auf 61 Prozent gestiegen. Besonders Habeck und die Grünen haben zuletzt Vertrauen eingebüßt. Hauptgrund dafür dürfte das ihnen zugeschriebene Gasumlage-Fiasko sein. Die Umlage sollte eine Verstaatlichung des Gasimporteurs Uniper verhindern, wie sie nun doch Realität wird. Überlegungen zu einem Preisdeckel für Gas hat die Bundesregierung an eine Expertenkommission ausgelagert, als hätte sie alle Zeit der Welt. Die Gasumlage ist inzwischen gekippt. Der Preisdeckel soll kommen. Aber auf die Expertenkommission wartet Habeck weiterhin.Auch um eine Übergewinnsteuer sollten sich andere kümmern – die Frage wurde an die EU-Kommission verwiesen. Selbige hatte derartige Maßnahmen schon im März empfohlen, und einige Mitgliedsstaaten sind dieser Empfehlung längst gefolgt. So wichtig es SPD, Grünen und FDP lange war, Konzerne vor der Abschöpfung von Krisengewinnen zu bewahren, so wenig interessierte sie lange, wie 40 Prozent der Bevölkerung, die über keinerlei Ersparnisse verfügen, durch Herbst und Winter kommen sollen. Während die Temperaturen fallen, wissen Menschen, die Hartz IV oder niedrige Einkommen beziehen, nicht, wie sie den Teuerungen begegnen sollen; ebenso gilt das für kleine Betriebe.Insgesamt gleichen die Maßnahmen der bis dato drei Entlastungspakete für viele nur maximal 20 Prozent der Kostensteigerungen aus, so das DIW. Zudem tritt, anders als die Energie- und Lebensmittelpreiserhöhungen, ein Teil der Entlastungsmaßnahmen erst zum Jahresbeginn 2023 in Kraft, die Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes etwa, die im Zuge der Bürgergeld-Reform ohnehin versprochen war. Die Erhöhung um 50 Euro entspricht exakt der Forderung der Grünen aus dem Wahlkampf, lange vor der Inflation: Was die Partei damals als Minimum für eine menschenwürdige Existenz betrachtete, soll in Zeiten der Rekord-Inflation eine „Entlastung“ sein? Sozialverbände fordern eine sofortige pauschale Anhebung der Regelsätze um 200 Euro im Monat.Auch die Kindergelderhöhung um 18 Euro sowie die Energiekostenpauschale für Rentner*innen und Studierende werden erst zum 1. Dezember beziehungsweise zu Jahresbeginn ausbezahlt. Die Reform des Wohngeldes wird 2023 umgesetzt werden. Schon jetzt wissen mehr als die Hälfte derer, die einen Anspruch auf Wohngeld haben, nichts von diesem oder meiden ihn, weil die Antragstellung zu kompliziert ist. Die Bearbeitung von Anträgen dauert vielerorts Monate.Diese unzureichende, in die Zukunft vertagte Rettungspolitik kommt heraus, wenn das Regierungshandeln zwei gegenläufigen Devisen folgt: einerseits die Unterstützung einer Mehrheit für den Sanktionskurs gegenüber Russland nicht verspielen, andererseits wirtschaftspolitische Paradigmen wie die Schuldenbremse bewahren.Maßnahmen, die einfach und sofort wirken, liegen längst auf dem Tisch: Die Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel und andere lebensnotwendige Güter auf null, der Stopp von Gas- und Stromsperren, ein Kündigungsverbot für Vermieter, damit niemand wegen hoher Nebenkostenforderungen auf der Straße landet. Bauministerin Klara Geywitz (SPD) beließ es bisher bei Appellen an das Wohlwollen der Vermieter.Gemessen am Ausmaß der Krise agieren auch die Gewerkschaften viel zu zögerlich. Explizit politische Interventionen bleiben ein großes Tabu in Deutschland, das „Prinzip Hoffnung“ dominiert. Ein Blick über die Grenzen lohnt auch hier: In Belgien haben die Gewerkschaften für den 9. November mit einem Generalstreik gedroht.Placeholder infobox-1