Engel und Äpfel

Berliner Abende Ich lasse mich erleichtert in die mintgrünen Polster fallen und nehme einen letzten Augenschein auf die Messestadt. Wir gleiten aus dem Sackbahnhof, ...

Ich lasse mich erleichtert in die mintgrünen Polster fallen und nehme einen letzten Augenschein auf die Messestadt. Wir gleiten aus dem Sackbahnhof, die Sonne glimmt auf und durchbricht bleigraues Wolkengetürm. Ein blendend weiß gekleidetes Mädchen steht am äußersten Ende eines Bahnsteigs und malt sich die Lippen an. Ihre bloßen Schultern zittern nicht, das Kleid wirft weite Bögen. Ein Engel. Die Flügel hängen matt. Auch ein Manga-Girl, denke ich. Ganz Leipzig wartet dieser Tage mit bunten Halb-Kindern auf, die überlange Ohren oder knallige Haargebilde mit sich herumtragen, von der Kleidung ganz zu schweigen. Bei den meisten war die Herkunft nicht auszumachen, einen Engel erkennt man sofort.

Ich vertiefe mich ins Buchstabenbeutegut, zähle später Rehe auf dunstigen Wiesen und lausche Rammstein. "Schlingensief", das Wort wird so laut ausgesprochen, dass ich die Ohrstöpsel entferne. "Ich war ein Engel!", ruft eine junge Stimme vor mir. Der neben ihm sitzende ältere Herr beugt sich zu seinem Gesprächspartner über das Abteiltischchen und ergänzt in schönsten bayrisch: "geflogen ist er, ganz hoch oben!" Eine Hand schwebt kurz über die Kopflehne meines Vordersitzes. Ich linse durch die Spalte zwischen den Komfort-Schalen. Die Antwort des freundlich lächelnden Sachsen kann ich nicht verstehen, aber die zu einem erstaunten "nuuu" gespitzten Lippen sehe ich deutlich. Im Folgenden geht es um Bayreuth, Wagner, Akustik und Eintrittspreise. Um Fußball, Nürnberg, Hans Meyer, Pech und wieder um die Oper. So viele Statisten wie bei der Inszenierung Schlingensiefs habe es in Bayreuth selten gegeben, betont der Bayer und der Sachse staunt. Draußen haben sich glänzend nasse Elbwiesen an uns vorbeigeschoben. Wittenbergs Kirchturm ist längst verblasst. Auch Jüterbogs zerdepperte Bahnwärterhäuser und kurz hinter Luckenwalde ein paar Greifvögel. Fett sind die, gab wohl viele Mäuse diesen lauen Winter lang.

Vor mir wird geraschelt und geordnet. Stullen eingewickelt, Flaschen verstaut. "Ich war ein Engel!", jubelt die jüngere Stimme noch einmal, als es just unter Tage geht. Wir rollen in Berlin ein. Das bedeutet, vom Bahnhof Südkreuz an sehen wir - nichts. Der Sachse ist aufgestanden, rafft Koffer und Jacke und näselt, wie sehr ihn die Bekanntschaft erfreut hat. Allgemeines Geschiebe und Verrenken setzt ein, Tunnelwände flankieren das gespiegelte Treiben. Ich packe Zeitungsberge ein und erhasche einen Blick auf den jungen Mann mit Down-Syndrom, dem der Vater liebevoll in die Jacke hilft.

Am Hauptbahnhof steht eine Rauchwolke vor dem Ausgang zur Invalidenstraße. Alles pafft. Taxis haben Hochbetrieb. Streik. Ein junges Mädchen in einem schwarzen Ledermantel grinst mich an. Sie trägt eine rote Armbinde mit einem schwarzen Apfel darauf. Ein ganzer Haufen ähnlich Gekleideter hat sich seitlich des Eingangs zusammengeschart und entrollt große rote Fahnen mit einem weißen Kreis darin. Darauf prangt der riesige Apfel. Rollkofferzieher bollern eilig davon, Taxis beschreiben Halbkreise um die seltsame Gruppe.

"Die warn vonner Appel-Front, ha ick och schon wecke von jefahren", kommentiert mein Taxifahrer, als wir am nunmehr komplett eingezäunten und verschalten Baugelände des BND vorbeirauschen. "Sowat varücktet jibts nur in Balin!" Ich blinzle in den grauen Himmel hinauf.

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