Entenhausen, eine Geistesmetropole

Sachlich richtig Literaturprofessor Erhard Schütz über Adornos Sehnsucht, die deutsche Autorin Hatice Akyün und anderes...
Ausgabe 45/2013
Entenhausen, eine Geistesmetropole

Illustration: Otto

Die europäische Stadt hätte seit einiger Zeit ihre Nachrufe lesen können, wenn sie denn läse. Man kann nicht einmal sagen, dass sie wirklich alt geworden ist. Aber weniger attraktiv – das schon. Nicht zuletzt verdankt sie das ihrer Attraktivität für Menschen, denen das Europäische an ihr reichlich wurscht ist. Was einem Historiker so natürlich nie über die Tastatur gehen würde – und Friedrich Lenger ist denn auch in seiner durch und durch beeindruckenden Darstellung zur europäischen Stadtgeschichte seit 1850, zum Aufstieg der Metropolen der Moderne, um höchste Ausgewogenheit bemüht. Auch zwischen den Metropolen, wenngleich – ausweislich des Registers – Berlin noch die Nase vorn hat. Wichtig aber ist die Einbeziehung der Metropolen des Ostens in diese Sozial- und Kulturgeschichte. Lengers Buch hat alle Zutaten zum Klassiker jenseits reiner Architekturgeschichten, so, wie es die Städte durch Industrialisierung, Politik, Migrationsbe-wegungen (glückssuchende wie ethnisch säubernde), Infrastrukturentwicklungen, Hygienekonzepte und Medienentwicklungen, Kriege, „Urbizid“ (K. Schlögel) und die Bifurkation von Ost und West verfolgt: faktenreich und facettiert, dabei aber stets klar strukturiert und bestens lesbar.

Neapel, kann man bei Lengerlesen, ist zwischen 1850 und 1913 von Platz 8 auf Platz 15 der größten europäischen Metropolen abgerutscht, war berüchtigt für seine Cholera-Epidemien und hatte einen erstaunlich niedrigen Ausländeranteil – jedenfalls in der Zeit, als die intellektuelle Crème Deutschlands, die es noch werden wollte, die Stadt auf – und dort – ja, wer weiß was? – suchte. Erst mal suchten sie 1925 sich, Walter Benjamin fand via Brecht Asja Lācis, um die schöne Kommunistin alsbald wieder zu verlieren, Siegfried Kracauer fand nicht den gewünschten Anschluss an den gerade 22-jährigen Adorno. Und der wiederum – so jedenfalls Martin Mittelmeier – fand die Geburt seiner Philosophie aus der neapolitanischen Sehnsuchtslandschaft. Am Ende bleiben die Argumente dafür zwar recht spekulativ, aber zugleich bleibt eine atmosphärisch dichte Studie über intellektuelle Gruppensteigerung in prägnanten Konstellationen.

Seit es sie gibt, lese ich die Tagesspiegel-Kolumnen von Hatice Akyün gern. Mal kompakt, mal porös, enden sie stets mit einer Lebensweisheit ihres Vaters. Gespannt warte ich darauf, dass die sich irgendwann erschöpfen. Eher erschöpft sich aber wohl die Autorin an den ihr immer neu abverlangten Erklärungen dazu, wieso sie mit ihren ansehnlichen Beinen wissen will, was in den Köpfen unter den Tüchern oder im türkischen Mann als Ganzem vorgeht. Mit drei Jahren hierher gekommen, ist die überaus erfolgreiche Autorin stets aber auch im (Selbst-)Verdacht, Quotentürkin zu sein. So reist sie entnervt dorthin, wo sie gefälligst herkommen soll, reist als Deutsche nach Istanbul. Ihr Feldversuch ist sehr lesenswert. Eine gewissermaßen doppelt stereoskopische Optik: mit deutschberliner Blick auf Istanbul (nicht freilich auf die Türkei), mit türkischem Hintergrund auf die deutschen Vordergründigkeiten über die Türkei (freilich nicht Istanbul). Mal banal, wie das Leben so ist, oft amüsant, wie das Leben auch ist. Und am Ende ist Istanbul vielleicht doch nicht so von dörflerischen Metropolitansimulanten bevölkert wie Berlin.

Die Hauptstadt der westlichen Welt, ach was: das himmlische Jerusalem schlechthin, das Orplid des Universums ist Entenhausen, mithin Erplid, die Metropole aller vernünftig Träumenden, vulgo der bildungsversessenen Spießer und spießbewehrten Bilderwisser – einer zwar bedrohten, aber überlebensnotwendigen Spezies. Patrick Bahners, dessen Fähigkeit, Gedanken um die Ecke zu drehen, etwa den Kombinationsmöglichkeiten von Rubiks Cube entspricht, hat sich der Herausforderung gestellt, Entenhausen ein für alle Mal auf der Landkarte der Geistesmetropolen zu etablieren. Und da gehört es in seiner überdurchschnittlichen Durchschnittlichkeit unbedingt ins Zentrum, dort, wo auf alten Landkarten früher Jerusalem war, auch und gerade weil es mit den Christen dort gar nicht so selbstverständlich ist, wie man meinen könnte, wohingegen die Anwesenheit des brutopischen Konsulats seinen diplomatischen Rang konfirmiert. Die Dichte von hintersinniger Lehrensvielfalt und wissensprallem Amüsemang lässt sich hier nur behaupten, nicht beweisen. Aber Donalds Wort drauf!

Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850 Friedrich Lenger C. H. Beck 2013, 757 S., 49,95 €

Adorno in Neapel. Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt
Martin Mittelmeier Siedler 2013, 304 S., 22,99 €

Ich küss dich, Kismet. Eine Deutsche am Bosporus
Hatice Akyün Kiepenheuer & Witsch 2013, 240 S., 14,99 €

Entenhausen. Die ganze Wahrheit
Patrick Bahners C. H. Beck 2013, 207 S., 19,95 €

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