Entführung von Berlin nach Vietnam: Bringt ein neuer Gerichtsprozess Licht ins Dunkel?
Prozessbeginn Bizarr: Der vietnamesische Geheimdienst entführt 2017 einen Staatsfeind aus Deutschland. Noch immer ist ungeklärt, wie die Entführer samt Opfer die EU-Grenze passierten. Nun steht mit Anh L.H. einer der Täter vor dem Berliner Kammergericht
Uncool: Aus dem hippen Berlin entführt und dann in Vietnam eingebuchtet werden. Was geschah Trinh Xuan Thanh?
Foto: Hoang Dinh Nam/afp/Getty Images
Ein Vietnamese wird im Sommer 2017 in Berlin durch den Geheimdienst seines Staates entführt. Schnell stellt sich die Frage: Wie bitteschön kamen Entführungsopfer und elf Geheimdienstler aus der EU raus? Die Antwort ist so abenteuerlich, dass sie von einem Krimiautoren stammen könnte: Sie reisten mit dem Regierungsflugzeug der Slowakei von Bratislava nach Moskau. Nun beginnt der Prozess gegen einen der vermeintlichen Entführungshelfer vor dem Berliner Kammergericht. Dort könnte auch die Frage beantwortet werden, welch dramatische Szenen sich damals in Bratislava während des Kidnappings abspielten.
Aber der Reihe nach: Entführt wurde 2017 ein Mann namens Trinh Xuan Thanh. Ein früherer vietnamesischer Wirtschaftsfunktionär, der in Berlin Asyl b
lin Asyl beantragt hatte und bis heute in Vietnam wegen eines Wirtschaftsvergehens in Haft sitzt. Dass er überhaupt in Berlin entführt und bis Bratislava verschleppt werden konnte, hat mutmaßlich mit einem anderen Mann zu tun, jenem, der sich bald vor dem Berliner Kammergericht verantworten muss: Anh T. L. Anfang November startet der Prozess.Wie er verhaftet werden konnte, obwohl er sich gleich nach der Tat nach Vietnam abgesetzt hatte? Das liegt an einer Ungeschicklichkeit von Anh T. L.: Im Frühsommer 2022 wollte er in sein geliebtes Prag reisen und seine dort lebende Mutter besuchen. Doch, zack, stattdessen klickten am Prager Flughafen die Handschellen und Tschechien lieferte den europaweit gesuchten Mann an Deutschland aus. Jetzt, mit fünf Jahren Verspätung, steht Anh T. L. endlich vor einem deutschen Gericht.Die Generalbundesanwaltschaft wirft ihm eine Beteiligung an der Entführung von Trinh Xuan Thanh vor. Zwar sei er selbst vermutlich kein Geheimdienstmitarbeiter; er hätte sich aber für diese Operation vom vietnamesischen Geheimdienst anwerben lassen. Anh T. L. war der Bundesanwaltschaft zufolge im Wesentlichen als Kraftfahrer tätig. Ihm wird vorgeworfen, bei der Ausspähung des Opfers in Berlin sowie bei dem Transport des Opfers von Berlin nach Bratislava am Steuer gesessen zu haben. Bevor 2018 das Berliner Kammergericht einen Freund von Anh T. L. verurteilte, der an der Entführung beteiligt war, hatten die Ermittler jeden Stein in Berlin umgedreht: Sie ermittelten, in welcher Suppenbar und in welchem Optikergeschäft das spätere Entführungsopfer von seinen Verfolgern ausgespäht wurde. Sie ermittelten, welche Kleidung die Entführer trugen, die in einem Berliner Hotel ihre Geheimdienstzentrale errichtet hatten.Doch die Geschehnisse in Bratislava blieben Anfang 2018 weitgehend im Dunkeln. Das lag daran, dass der damals angeklagte Freund von Anh T. L. nicht persönlich in der slowakischen Hauptstadt zugegen war. Der neue Prozess, der in wenigen Wochen beginnt, könnte nun Licht ins Dunkel bringen.Verdächtiges MittagessenAls sicher gilt: Drei Tage nach der Entführung bewirtete der damalige slowakische Innenminister, Robert Kaliňák, im Regierungshotel Bôrik ein paar Gäste. Die Liste der Anwesenden ist besonders interessant: Da waren sein vietnamesischer Amtskollege To Lam sowie einige hohe Tiere aus dem vietnamesischen Geheimdienst. Vier der anwesenden Herren, darunter der Minister, waren eigens aus Vietnam angereist. Die anderen acht waren mit Autos aus Berlin und Prag gekommen – und hatten wohl an der Entführung aktiv mitgewirkt.Das Mittagessen dauerte nur 50 Minuten. Kaliňák hatte für den kurzfristig anberaumten Termin extra seinen Österreich-Urlaub unterbrochen. Diente das Treffen etwa dazu, Entführungsopfer und -mannschaft aus Europa herauszubringen?Natürlich verbreiteten die Beteiligten am nächsten Tag eine andere Version: Bei dem Treffen sei es um Hilfe der Slowakei für Ausrüstungen von Feuerwehr und Polizei gegangen. So zumindest stand es tags darauf in vietnamesischen Zeitungen. Als slowakische Medien ein Jahr später Fragen zu dem Besuch stellten, erklärte ein Ministeriumssprecher, Thema sei ein Industriepark nahe der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi gewesen, in den das slowakische Innenministerium investieren wollte.Sollte eine der beiden Varianten stimmen, fragt sich: Wozu brauchte der vietnamesische Minister zwei stellvertretende Geheimdienstchefs in seiner Begleitung, um mit seinem slowakischen Amtskollegen über Feuerwehr, Polizei und Industrieparks zu sprechen? Für die These, dass bei dem Mittagessen darüber gesprochen wurde, wie Trinh Xuan Thanh aus dem Schengenraum gebracht werden kann, spricht die Vorgeschichte der beiden Innenminister: Vier Monate vor ihrem Treffen hatten die beiden in Bratislava ein Abkommen zur Zusammenarbeit beider Polizeien unterzeichnet. Einen Monat vor der Entführung schließlich gab es den Gegenbesuch von Kaliňák in Hanoi. Vietnamesischen Presseberichten zufolge ging es dabei um die „Verbesserung der Zusammenarbeit bei Polizeifahndungen“.War damit die Fahndung nach dem späteren Entführungsopfer Trinh Xuan Thanh gemeint? Immerhin war er damals der meistgesuchte Vietnamese überhaupt: Sein Heimatland unterstellte ihm Unterschlagung von Geldern in mehrstelliger Millionenhöhe. Thanh selbst bestreitet bis heute diese Anschuldigungen. Doch geholfen hat ihm das nicht.Und noch etwas ist interessant: Die Vorbereitungen zu dem kurzfristig anberaumten Treffen der beiden Innenminister sind nicht, wie es eigentlich üblich wäre, über die slowakische Botschaft in Hanoi gelaufen. Stattdessen war der Berater der slowakischen Regierung für die Zusammenkunft verantwortlich: ein gebürtiger Vietnamese namens Le Hong Quang, der im Ehrenamt auch als Propagandist für die vietnamesische Botschaft in Bratislava tätig war. All diese kleinen Details schreien förmlich danach, die offiziellen Verlautbarungen von slowakischer und vietnamesischer Seite zu hinterfragen.Wusste der damalige slowakische Innenminister, Robert Kaliňák, etwa von der Entführung? Das hat er stets dementiert. Zugegeben hat er nur, den Vietnamesen den Regierungsflieger geliehen zu haben. Um seine Unschuld zu beweisen, hat Kaliňák sogar angeboten, sich einem Lügendetektor zu stellen. Beweisen konnte man bisher nicht, dass er bei der Entführung von Trinh Xuan Thanh unter einer Decke steckt mit der vietnamesischen Regierung. Aber es gibt Indizien, dass Kaliňák etwas gewusst haben könnte. Warum unterbricht ein Minister zum Beispiel seinen Urlaub für ein fünfzigminütiges Treffen, wo es um Feuerwehr, Polizei oder Industrieparks geht?2019 ist zudem eine Rechnung aufgetaucht, die Kaliňák belastet: Das Innenministerium hatte Vietnam nach der Entführung 17.000 Euro für die Flugkosten nach Moskau in Rechnung gestellt. Die geforderte Summe wurde nie bezahlt. Auf Geheiß des Ministers soll die Rechnung Ende 2017 sogar storniert worden sein. Es gibt Gerüchte in Bratislava, dass Vietnam lange vorher die Flugkosten bezahlt habe – allerdings nicht an die slowakische Staatskasse, sondern in private Taschen.Außerdem gibt es ein weiteres Indiz, bei dem der bald in Berlin vor Gericht stehende Anh T. L. Licht ins Dunkel bringen könnte: Es geht um den Transport der vietnamesischen Staatsgäste vom Regierungshotel Bôrik zum Flughafen Bratislava. Der erfolgte in slowakischen Regierungslimousinen. Denen hatte sich ein Auto mit tschechischem Kennzeichen angeschlossen: Den deutschen Ermittlern zufolge ein Leihwagen mit dem Entführungsopfer Trinh Xuan Thanh an Bord. Vieles spricht dafür, dass dort der nun angeklagte Anh T. L. am Steuer saß. Laut slowakischen Sicherheitsbeamten soll es sich bei seinem Passagier um einen Mann gehandelt haben, der nicht ohne fremde Hilfe laufen konnte, der ein Bein nachzog und dessen Gesicht voller Blutergüsse war. Sehr wahrscheinlich war Trinh Xuan Thanh, der mit einem gefälschten Pass und unter falschem Namen ausreiste, unter Drogen gesetzt worden.Bei der Ausreise sah ein Polizeibeamter slowakischen Ermittlungen zufolge, dass in seinem Pass kein Einreisestempel für den Schengenraum war. Doch der stellvertretende Direktor des Grenz- und Ausländerpolizeiamtes des slowakischen Polizeipräsidiums hätte ihm telefonisch, trotz des fehlenden Einreisestempels, die Genehmigung für die Ausreise erteilt. Ein zumindest unübliches Vorgehen. Glaubt man Ivan Mutušík, einem slowakischen Polizeikritiker, der unzählige Regierungsakten zu dem Fall durchgewälzt hat, wurde dieses Prozedere einige Wochen zuvor mit einem ukrainischen Strohmann geprobt.Das Gerichtsverfahren in Berlin kann über den Anteil der Slowakei an der Entführung von Trinh Xuan Thanh Neues zutage bringen. Das könnte tief in die Politik dieses Landes eingreifen: Der 2018 nach dem Mord an dem Journalisten Jan Kuciák und seiner Verlobten zurückgetretene Kaliňák wurde im April 2022 wegen eines anderen Tatvorwurfs festgenommen und ist mittlerweile wieder auf freiem Fuß.Muss er bald vor dem Berliner Gericht aussagen? Es könnte anders kommen: Wenn der Angeklagte Anh T. L. seine Tatbeteiligung gesteht, kann das Berliner Kammergericht auf die Beweisaufnahme von Kaliňák verzichten. Verteidiger Marvin Schroth lässt gegenüber dem Freitag offen, ob sein Mandant die Beteiligung an der Entführung gestehen wird. Angesichts der Beweislage läge es nahe, dass die Verteidiger dem Angeklagten dazu raten.Bleibt die Frage, was für die Regierung in Hanoi, die bis heute dementiert, dass es überhaupt eine Entführung gegeben hat, schlimmer wäre: Ein zweites Geständnis eines Tatbeteiligten? Oder die Aufklärung vor Gericht, wie die Regierungen in Bratislava und Hanoi 2017 kooperierten? Und dann ist unklar, was dem Angeklagten Anh T. L. wichtiger ist: Ein Geständnis, das ihm weniger Haftzeit in Berlin einbringen könnte? Oder der Verzicht auf ein Geständnis, was ihm erlaubt, nach vietnamesischem Verständnis unschuldig zu bleiben? Denn es spricht viel dafür, dass der Angeklagte nach Verbüßung seiner Haftstrafe nach Vietnam zurückkehren muss.
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