Entgleiste Rhetorik

Sarrazin Nachdem die Publizistin Mely Kiyak sich gegen Sarrazin im Ton vergriffen und einen ­Shitstorm ausgelöst hatte, kam es zum Soli-Abend mit ihr...

Repressionen, politische Gefangenschaft, Mord. Das sind die Gründe, aus denen normalerweise Solidaritätsabende für Journalisten veranstaltet werden. All das trifft auf Mely Kiyak zum Glück nicht zu. Sie ist wohlauf, lebt in Freiheit und publiziert Kolumnen in der Frankfurter Rundschau und in der Berliner Zeitung. Kein Grund also, für die 35-Jährige einen Gedenkabend zu veranstalten? Falsch!, befand das Berliner Ballhaus Naunynstraße und lud am vergangenen Freitag zu einem Soli-Event der Superlative.

Über dreieinhalb Stunden lasen 34 namhafte Vertreter aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Medien vor 400 Zuschauern Kolumnen der Journalistin. Man mobilisierte sogar die Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir und Mehmet Kilic, mitinitiiert von der designierten Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters Shermin Langhoff. Der Anlass für diese Aktion waren ein paar Artikel aus dem Axel Springer Verlag, in denen Mely Kiyak kritisiert wurde. Plötzlich lag das Wort „Rassismus“ in der Luft. Was war geschehen?

Am 19. Mai hatte Kiyak in ihrer Kolumne geschrieben, Thilo Sarrazin sei eine „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“, die „das niedrigste im Menschen“ anspreche. Die Bild und die Welt hatten an dieser herablassenden Art Kritik geübt. Springer schrieb auch, dass Kiyak den Verfasser eines kritischen Leserbriefs als „flachgewichsten Leser“ bezeichnete. Etwas, was sie bis heute weder zugab noch dementierte. Vielen Stammlesern und den meisten Anwesenden des Kreuzberger Soli-Abends sprach Kiyak mit dieser Brachialität offenbar aus der Seele. Tenor: Jemandem, der andere würdelos behandelt, dem darf man auch die Würde nehmen. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Inhumane Rhetorik

Im Saal wurde die Vermutung laut, 80 Prozent der Deutschen seien heimlich rechts. Ein „freies Land für freie Nazis“ eben, wie Kiyak schrieb. Kurz: Der Soli-Abend war ein voller Erfolg für die Profiteure einer Gesellschaftsspaltung. Wer Shermin Langhoff an dem Abend fragte, ob die Springer-Kritik an Kiyaks unhumaner Rhetorik nicht doch im Kern berechtigt sei, bekam als Antwort eine Drohung mit dem Anwalt. Dass Langhoff und Kiyak sich auf das gleiche intellektuelle Niveau begeben haben wie ihre Erzfeinde von Politically Incorrect, dem rechten Blog, war ihnen selbst vermutlich gar nicht aufgefallen.

Auch Polictially Incorrect sieht sich ständig durch den angeblichen diskursiven Mainstream unterdrückt. Es ist eben bequemer, Macht zu fordern, wenn man aus der Position der Schwachen argumentiert – auch wenn man bereits über publizistischen Einfluss verfügt. Intellektuelle Größe zeigt man indes mit Besonnenheit, erst recht, wenn man eine moralische Vorbildfunktion für sich reklamiert. Die Empörung über die Empörung über eine urspüngliche Empörung ist die Bedingung für das Entstehen eines Shitstorms. Mely Kiyak entschuldigte sich formell zwar bei Sarrazin. Den Shitstorm, den sie gegen ihn in Gang setzen wollte, bekam aber am Ende sie selbst auch zu spüren.

Michael Ginsburg schrieb zuletzt im Freitag über die russische Community in Berlin

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