Es beginnt wie Camus oder Antonioni oder auch ein früher Gerhard Roth: geheimnisvoll, unheimlich, wie in einem Alptraum. Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, kommt auf einer Insel an, auf der er zuvor bereits einmal mit seiner Frau gewesen war. Davon werden wir bereits im zweiten Kapitel mehr erfahren. Alles erscheint zusammenhanglos, bruchstückhaft, wie tot. Die Sätze sind meist kurz, lakonisch, unaufgeregt.
Vom Balkon seines Hotelzimmers aus blickt der Erzähler auf eine andere Insel: San Borondon. Gibt es sie überhaupt? Oder existiert sie nur in der Fantasie des Erzählers? Oder ist sie eine "Luftspiegelung", die manche als Insel wahrnehmen und andere nicht? Das zu überprüfen, waren vier Personen, die wie der Erzähler die Insel "sahen", s
ahen", seinerzeit losgefahren übers Meer. Von dieser Exkursion liefern drei Zurückgekehrte im weiteren Verlauf unterschiedliche Berichte. Und sie bringen ein Geheimnis mit, das das letzte Drittel des Romans bestimmt und hier nicht verraten werden soll. Der Vorarlberger Christian Mähr, Jahrgang 1952, hat mit seinem Roman Die letzte Insel der ohnedies üppigen österreichischen Gegenwartsliteratur ein faszinierendes Meisterwerk hinzugefügt. Was bald nach der Exposition irritiert und auch amüsant wirkt, ist die Durchsetzung dieser zunächst traumartigen, symbolisch aufgeladenen Atmosphäre mit Partikeln einer vertrauten, geradezu banalen Alltagsrealität, die sich insbesondere in den Dialogen äußert. Den Rahmen bildet eine zufällig zusammengewürfelte Urlaubsgesellschaft aus jener Vergangenheit eben, in der der Erzähler mit seiner Frau die Insel, den Ort der Handlung, entdeckt hatte. Mähr hat einen Sinn für Situationen, die auf eine leise, fast melancholische Weise komisch sind. Etwa wenn eine Frau, völlig unbekleidet, an einem Nacktbadestrand den Erzähler um ein Autogramm bittet, der naturgemäß kein Schreibuntensil bei sich trägt, oder wenn dieselbe Dame dem Erzähler im Zuge eines Geschlechtsverkehrs hochdramatisch von der Expedition berichtet. Die kritisch-ironische, oft miesepetrige Sicht des Erzählers gilt nicht nur der Umwelt, sondern auch dem Erzähler selbst - und damit dem Gewerbe, das er mit dem Autor teilt. Aber das gerät nicht zur zornigen Abrechnung, bleibt vielmehr detailgenau und verzichtet nie ganz auf den poetischen Duktus, den der Roman zu Beginn angetönt hat. Anders formuliert: Mähr macht aus Szenen, die man sich auch als Feuilletons vorstellen könnte, durch Konstruktion und Sprache eine Literatur, die über den Tag hinausweist. Zu den literarischen Verfahren, die Mähr unaufdringlich verwendet, gehört der Perspektivenwechsel. Zwischen die Kapitel in Ich-Form fügt er Kapitel, die in der dritten Person aus der Perspektive jeweils einer der Figuren erzählt sind. Wer will, kann den Roman als literarische Verbrämung oder als Persiflage des neuerdings in Österreich wiederentdeckten und propagierten Konstruktivismus eines Heinz von Foerster oder eines Ernst von Glasersfeld verstehen. Demnach wäre die Insel Borondon ein Konstrukt und nur als solches real. Für Aufregung sorgte vorübergehend der Philosoph Rudolf Burger, als er vor einiger Zeit Ähnliches von Auschwitz behauptete und das KZ unter diesem Aspekt mit Karthago gleichsetzte. Zugleich aber entspricht Mährs zentraler Einfall dem Mystery-Schema, das für Spannung sorgt.Die letzte Insel ist Christian Mährs zweiter Roman. 1998 veröffentlichte er Simon fliegt. Auch hier ereignet sich Wundersames - der Titel kündigt es an -, auch hier wird mit einer Erfahrung gespielt, die der Erzähler im nachfolgenden Roman so beschreibt: "Die Wirklichkeit entglitt mir allmählich. Ich konnte es spüren. Wirklichkeitsverlust fühlt sich an wie Kontrollverlust." Auch hier arbeitet Mähr mit Perspektivenwechsel. Aber obwohl der erste Roman größtenteils in seinem Heimatort Dornbirn spielt und nicht auf einer dreitausend Kilometer entfernten Insel, ist er fast noch skurriler als der Nachfolger. Der Traum vom Fliegen hat übrigens in der österreichischen Literatur Tradition. Der Großmeister des Absurden und der Sprachmimikry H.C. Artmann hat einen Aeronautischen Sindtbart geschrieben. Mährs Sprachstil ist im ersten Roman bereits ausgeprägt (der Autor war ja kein junger Mann mehr). Er ist unprätentiös, aber niemals geschludert. Martin Walser, der unweit von Mähr am Bodensee lebt und mit diesem das Alemannische teilt, hat die langen Sätze der eigenen frühen Romane mit seinem Atemrhythmus in einen Zusammenhang gebracht. Demnach muß Mähr ziemlich kurzatmig sein.Christian Mähr: Die letzte Insel. Roman. DuMont, Köln 2001, 220 S., 19,80 EURChristian Mähr: Simon fliegt. Roman. DuMont, Köln 1998, 266 S., 19,90 EUR