Entmummung

Widerstand 2016 entstand in Frankreich eine Bewegung aus dem Nichts. Ein Buch dokumentiert die Proteste
Ausgabe 20/2018
Ein Demonstrant versucht sich an der Zerschlagung des Systems - Paris, 2016
Ein Demonstrant versucht sich an der Zerschlagung des Systems - Paris, 2016

Foto: Elliott Verdier/AFP/Getty Images

Angesichts der Proteste von Studentinnen und Studenten und der Eisenbahnerstreiks in Frankreich (Freitag 18/2018) könnte Sebastian Lotzers neues Buch aktueller kaum sein. Nachdem er in seinem Roman Begrabt mein Herz am Heinrichplatz (Bahoe Books 2017) die radikale Linke Berlins in den 1980ern und 1990ern beschrieben hat, wagt er nun einen Blick über den Rhein. Lotzer hat Interviews, Aufrufe, persönliche Berichte und Reportagen von den Protesten gegen die Reform der Arbeitsgesetze (loi travail) sowie rund um die Geschehnisse nach dem Tod von Adama Traoré und der Misshandlung von Théo Luhaka gesammelt, jenen zwei jungen Männern aus den Pariser Vorstädten, die in die Fänge rassistischer Polizisten geraten waren.

Diese Dokumente erzählen davon, wie im Frühjahr 2016 quasi aus dem Nichts eine politische Bewegung entstand. Doch wie kam es dazu, dass auf einmal neue, unverbrauchte Parolen erklangen und in einigen „wenigen, glückseligen Momenten die Angst die Seite wechselte“, wie es im Buch heißt?

Was die Beantwortung der Frage so lesenswert macht, ist, dass Protagonistinnen und Protagonisten der Geschehnisse selbst zu Wort kommen und in einer umfangreichen Chronologie die Ereignisse minutiös nachgezeichnet werden. Zudem wird das Buch, wie zuvor schon der Berlin-Roman, flankiert von einer Webseite mit umfangreichem Videomaterial.

Hintergrund der Proteste war der Plan der Regierung des damaligen Präsidenten Hollande von Anfang 2016, eine Arbeitsrechtsreform durchzusetzen, um neue Arbeitsplätze zu schaffen und die Wirtschaft anzukurbeln. Dafür sollte die Zahl der Flächentarife signifikant verringert werden, Arbeitszeiten verlängert und der Kündigungsschutz verschlechtert werden. Anleihen nahm die französische Regierung bei den Sozialstaatsreformen der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder.

Dagegen regte sich Widerstand, Frankreich erlebte eine große Streik-und-Protest-Welle, die unter dem Namen „Nuit debout“ bekannt wurde. Lotzer, der unter diversen Pseudonymen im Netz schreibt, blickt jedoch weniger auf die „Nuit debout“-Bewegung, sondern stellt die autonomen Proteste in den Vordergrund – also Proteste derjenigen, die in der deutschen Debatte meist als „vermummte Gewalttäter“ bezeichnet werden. Er beschreibt sie als den „antagonistischen Block“, der sich nicht vom herrschenden Diskurs vereinnahmen lässt.

In einer Zeit scheinbarer Alternativlosigkeit und Marginalisierung der radikalen Linken wirkt ein Fokus auf Militanz zwar anachronistisch. Es ist aber notwendig, daran zu erinnern, dass diese Form des Protests weiterhin besteht.

Schüler gegen Flics

Besonders überraschend sind der Organisationsgrad, die Militanz und die Selbstorganisation unter Schülerinnen und Schülern vor allem aus den Vorstädten, die neben dem Arbeitsgesetz besonders häufig von der zweiten großen Quelle des Unmuts betroffen waren: der alltäglichen und häufig offen rassistischen Gewalt derFlics, der Polizei.

Das Buch sympathisiert offen mit militantem Protest, das macht die Sammlung der Texte unmissverständlich klar. Dass die überwiegend aus Frankreich stammenden Texte dabei manchmal etwas pathetisch geraten sind, ist verzeihlich. Doch was bei all der mitreißenden, beschreibenden Sprache gelegentlich etwas zu kurz kommt, sind Erklärungen und Begründungen. Warum kam es nicht zu einer Vermassung des Protests? Warum ist die Bewegung am Ende gescheitert?

Am Schluss seines Buches versucht Sebastian Lotzer einen Bogen zur Situation in Deutschland nach den Aktionen gegen den G20-Gipfel in Hamburg zu spannen. Dort hätte sich gezeigt, dass die Wirksamkeit militanten Protests in erster Linie in der Spontanität und der Unberechenbarkeit der Aktivistinnen und Aktivisten liege. Daher rät Lotzer für zukünftige Proteste diesseits wie jenseits des Rheins auch zu kleinen Spontandemos, die kaum unter Kontrolle gebracht werden könnten.

Info

Winter is coming. Soziale Kämpfe in Frankreich Sebastian Lotzer (Hrsg.) Bahoe Books 2018, 144 S., 14 €, Videomaterial unter winteriscoming.bahoebooks.net

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